Angst und Sozialismus

Ein Kurzgeschichte von Jochen Schmidt

Manche behaupten heute, die DDR sei keine Erfahrung der Angst gewesen. Aber nicht ohne Grund gehörte „Der kleine Angsthase“ zu unseren Lieblingsbüchern. Er zog den Fuchs am Schwanz, bis der seinen kleinen Hasenbruder losließ. So wollte ich auch einmal schreiben.

In meiner Familie gehörte Angst zum täglichen Brot, allerdings nicht vor der Stasi. Für uns hieß sie Staatssicherheit. Und alles, was wir von ihr wussten, war, dass ein kleiner Teil von ihr so aussah wie Gisela Graf von schräg unten, deren Töchter uns mal in ihrem Auftrag eine Stange Hubba-Bubba-Kaugummi weggefressen hatten, um uns zu demoralisieren. Man musste bei ihr Angst davor haben, dass sie einem halbnackt die Tür öffnete, weniger dass sie einen abhörte. Das machten sowieso alle, weil die Zentralheizung als Nottelefon gedacht war. Dadurch wusste man immer, wer gerade Dieter Hallervorden guckte und wer sich bald scheiden lassen würde. Die Stasi saß derweil in einem mysteriösen Betonblock, und wenn es in der Leitung knackte, machte man Witze darüber.

Angst hatte ich vor viel realeren Sachen. Zum Beispiel davor, dass die Betonplatte, die unsere Balkonbrüstung darstellte, runterfallen könnte. Die war zwar mit Eisensträngen am Haus verankert, aber sie wackelte. Ich fragte meinen ESP-Lehrer, ob es normal sei, dass die Eisenstränge bei uns verrostet waren, und er klärte mich darüber auf, dass Rost der beste Korrosionsschutz sei. Ich stellte mir vor, wie die Platte nach unten fiel und den herausguckenden Balkon-Urlaubern nacheinander die Köpfe wegschlug. Zum Glück wohnten wir selbst ja ganz oben und mussten nur Angst haben hinterherzufallen, unsere Köpfe mussten wir nicht einziehen. Das mussten wir nur, wenn die von unten zu Silvester zurückschossen. Dazu steckten sie die Raketen in die Fahnenhalter, mit denen alle Balkons ausgerüstet waren. Ich sah mich schon mit zwei Raketen in den Augen beim Notarzt sitzen.

Ich fürchtete auch immer, dass nachts jemand durch unsere Neubaupapptür eindringen könnte. Das einzige was eindrang war aber Regenwasser unter den Fensterbrettern. Ich hatte Angst, dass wir vom Strom erschlagen werden könnten, weil da auch eine Steckdose steckte. Genauso wie bei Gewitter der Blitz in den Fernseher einschlagen könnte, weshalb wir den Netzstecker zogen. Der Fernseher war für mich ohnehin nur eine Zeitbombe, seit in einer Wissenschaftssendung eine implodierende Bildröhre demonstriert worden war. Die Glasscherben hatten sich tief in den Studiobeton gebohrt.

Ich hatte Angst, behindert zu werden, so wie die vielen Behinderten, die in Buch in ihren Behindertenwohnungen wohnten. Der Opa von der Curry-Bude hatte sogar nur noch einen Oberkörper. Zum Pinkeln fuhr er ins Gebüsch, aber womit pinkelte er? Man hatte Angst nachzusehen. So wie man Angst hatte, nachts durch den Schlosspark zu gehen, weil da der Pullermann sein Unwesen trieb. Er kam angeblich aus „218“, der Klapsmühle in Buch. Man erzählte sich, dass aus 218 nachts die Verrückten rausgelassen würden, die dann im Schlosspark spukten. Der Sohn vom Chefarzt des Regierungskrankenhauses, der in meine Klasse ging, wusste es aus erster Quelle. Er war übrigens der einzige, der es nicht lustig fand, wenn man mit ihm telefonierte und sich dabei über die knacksenden Abhörer lustig machte. Vielleicht wusste er auch das aus erster Quelle.

Behindert wurde man auch, wenn man in der Badewanne rumalberte und dabei hinfiel.„Wollt ihr das ganze Leben im Rollstuhl fahren?“ fragte uns unsere Mutter. Und wenn man zu viel Zucker aß wurde man zuckerkrank und bekam jeden Tag eine Spritze. Deshalb machte ich mir einen Zuckerplan, um meinen Sirupgenuss einzuschränken. Ich hatte schon ganz schlechte Zähne davon, vielleicht aber auch, weil ich sie nicht putzte. Jedenfalls konnte man daran wackeln, und ich hatte Angst, dass sie rausfallen, und spülte sie regelmäßig mit H-Milch.

Schlimm war auch die Angst, morgens tot aufzuwachen. Unser Vater riet uns ab, von seiner leckeren Pilzpfanne zu essen, weil er die Pilze selbst gesammelt hatte. Ich dachte beim Einschlafen: Morgen ist Papa tot. Das gleiche dachte ich von mir, als ich mitten in der Nacht Tripper hatte. Jedenfalls passte es zu der Beschreibung aus dem Biobuch. Wenigstens würde ich so nicht heiraten müssen, dachte ich erleichtert, denn mein Westcousin hatte mir einmal anvertraut, dass man dann mit seiner Frau „nackich“ tanzen müsse. Ich wusste gar nicht, was schlimmer war, sich vor ihr „nackich“ zu zeigen, oder tanzen zu müssen.

Schlimmer war nur die Angst vor Jimmy Carters Atombombe. Einmal fiel sie nachts, bzw. ich dachte das, weil es auf dem Gelände der Zivilverteidigung einen Knall gegeben hatte und die Sirene losgegangen war. Da betete ich: Lieber Gott, wenn es dich gibt, nimm es mir nicht übel, dass ich dich so zweiflerisch anspreche, aber woher soll ich wissen, dass es dich gibt (so kompliziert gestaltete sich die Anrede, aus Angst, ihm auf den Schlips zu treten), mach, dass es keinen dritten Weltkrieg gibt und ich rumlaufen muss wie die letzten Kinder von Schewenborn. Dabei wusste ich, dass diese Angst unbegründet war, weil in meinem Pionierkalender gestanden hatte, dass amerikanische Wissenschaftler den Tag berechnet hätten, an dem der dritte Weltkrieg ausbrechen würde. Und bis dahin war es noch etwas Zeit. Zunächst brachen nur die schwarzen Käferchen aus, die im Kaufhallenmehl wohnten. Sie krabbelten überall rein und zu Weihnachten fand man sie in den Weihnachtskugeln, aus denen sie nicht mehr rausgefunden hatten.

Es gab auch Mäuse, da Buch auf Feldern gebaut war. Ich baute Mausefallen aus Schnipsgummi, hatte aber Angst nachzugucken, ob eine tote Maus drin war. Sie kamen durch den Lüftungsschacht und fraßen uns unsere Filienchen weg. Sie ließen aber die Packung ganz und knabberten sie nur an einer Ecke durch, so dass wir es jahrelang nicht merkten, weil wir die Filienchen sowieso für verfallen hielten und nicht anrührten, bzw. für den Notfall aufhoben, für den wir aber auch schon einige Brote in der Gefriertruhe hatten.

Eine Angst habe ich nie abgelegt. Man weiß ja, dass Lachse sich reißende Gebirgsbäche hinaufschummeln können. Wer sagt dann, dass nicht eines Tages amerikanische Wissenschaftler Bazillen entdecken, die das auch können? Und dann ist man auf dem Klo nicht mehr sicher, ob sich nicht ein paar Abenteurerbazillen zu einem hochhangeln und ihr Unwesen treiben. So hatte ich mir ja damals auch meinen Tripper erklärt, schließlich hatte ich mit gar keiner Frau nackich getanzt. Ich konnte doch gar nicht tanzen.

Hinweise:Zum Pinkeln fuhr er ins Gebüsch, aber womit pinkelte er? Man hatte Angst nachzusehenIch dachte beim Einschlafen: Morgen ist Papa tot. Das gleiche dachte ich von mir, als ich Tripper hatte