: Hier ist nichts für dich
Die Frau ist Deutsche, ihr Mann kommt aus Taiwan. Kein Problem, denkt sich die Frau. Deutschland ist ein weltoffenes, demokratisches Land. Rassismus, den gibt es vielleicht noch eine Weile in den neuen Bundesländern, aber doch nicht bei den netten Nachbarn, den gebildeten Kollegen im Westen. Die Frau hat sich geirrt. Gründlich
von HANNE CHEN
Im Sommer 1999 brachen wir unsere Zelte in Deutschland ab. Mein Mann, gebürtiger Taiwaner, ließ sein deutsches Leben erleichtert hinter sich. Er hatte an der Universität Stanford in Silicon Valley eine Stelle gefunden und konnte dem Max-Planck-Institut in Göttingen für immer Lebewohl sagen. Ich nahm viel Traurigkeit mit. Zum einen, weil ich und die Kinder Freunde zurückließen. Zum anderen, weil dieses Land, mein Land, eine überwältigende Unfähigkeit gezeigt hatte, meinen Mann als Menschen anzunehmen.
Ich kenne asiatische Frauen, die mit ihrem Leben in Deutschland zufrieden sind. Meine Schwägerinnen haben ihre Reisen durch Deutschland in guter Erinnerung. Schöne Ausländerinnen treffen auf viel Hilfsbereitschaft. Aber die Geschichte, die ich hier erzähle, ist die eines Mannes, der auszog, um in Deutschland Biologie zu studieren, und ich bin froh, dass es die Geschichte eines Asiaten ist und nicht die eines Afrikaners.
Einer unserer Nachbarn im schleswig-holsteinischen Krusendorf, das wunderbar malerisch an der Ostsee liegt, war ein Nazi, der, wie er sagte, „den Gau im Griff“ hatte und gut war für Sprüche wie: „Wir wollen uns doch nichts vormachen. Du bist doch hier im Dorf der Kanake.“ Womit er meinen Mann meinte. Er war noch für ganz andere Sprüche gut, aber Wirrköpfe gibt es überall. Vergessen wir ihn, der gar nicht der Übelste war, denn immerhin sprach er mit uns. Vergessen wir unseren angebohrten Öltank, die Skinheadbande im nächsten Dorf, die zusammengeschlagenen Afrikaner vom Asylantenheim nebenan, und die Plexiglasscheiben, mit denen wir unsere Fenster verstärkten aus Angst vor Brandsätzen.
Reden wir von den normalen Leuten. Von den Studienkollegen meines Mannes, die nicht wussten, dass Ausländer grundsätzlich kein Anrecht auf Bafög haben, ihm aber vorwarfen, bloß des Bafögs wegen nach Deutschland gekommen zu sein. Von der Frau im Kopierladen, die ihn stehen ließ, aber den Minuten später hereinkommenden Deutschen („Was darf ich für Sie tun?“) mit betonter Höflichkeit bediente. Von dem Bauarbeiter, an dem wir sechsmal vorbeimussten, und der sechsmal mit der Arbeit aufhörte, um uns nachzustarren, als wollte er uns mit bloßen Händen erwürgen. Von der Arbeitskollegin, die nicht ein einziges Mal meinen Mann grüßte.
Reden wir von dem gastierenden Mitbewohner, der kein Wort mit ihm sprach und wortlos auflegte, wenn ich anrief. Von der Pensionswirtin, die mir mit den Worten „Damit ist mir nicht geholfen“ die Tür vor der Nase zuschlug, als sie sah, das ich Zimmer für Chinesen suchte. Von dem Nachbarn, der einen chinesischen Bekannten anschnauzte, weil der sein Fahrrad an der Hauswand abgestellt hatte und weil davon die Wand kaputtgehe. Von der Standesbeamtin in Dänischenhagen, die erst sehr freundlich war und dann, als die Rede darauf kam, dass ich einen Taiwaner heiraten wollte, abrupt in eine tiefgekühlte Tonlage verfiel: „Ach, Sie wollen einen Ausländer heiraten? Das ist ja ganz was anderes. Rufen Sie mich heute Nachmittag noch mal an.“
Reden wir von dem Max-Planck-Mitarbeiter, der den Namen meines Mannes irre komisch fand und ihm das auch mitteilte. Von dem Hausmeister an der Uni, der nach meiner Heirat Schwierigkeiten hatte, mir wie bisher meine korrekt adressierte Post zukommen zu lassen. Warum nur? „Das ist doch gar kein deutscher Name!“, lautete die Antwort. Reden wir von den freundlich herablassenden Menschen, die meinen Mann oder uns beide duzten. Von der täglichen Unfreundlichkeit. Und und und ...
Dann war da noch die normale Diskriminierung, die gar nicht so gemeint war und gerade deswegen so traf: Man beachtete meinen Mann einfach nicht. Fragen, die er stellte, wurden mit Blick zu mir beantwortet. In Autoreparaturwerkstätten. Auf dem Rathaus. Auf dem Spielplatz. Auf Partys. Bei der Spedition. Selbst an der Uni geschah es, dass er eine Frage stellte, die der Dozent dann wortreich seinem deutschen Nebenmann erklärte. Hunderte von Malen schickte ich meinen Gegenübern ein Stoßgebet: Schau wenigstens ein einziges Mal ihn an und rede nicht immer zu mir. Es wurde so selten erhört. Es ist nicht einfach, jahrelang Luft zu sein.
Halt. In einer anderen Beziehung war er keineswegs Luft. „Niemand wird sich in Deutschland nach uns umschauen“, hatte ich ihm versichert, denn es war uns in Taiwan zwar sehr freundliche, aber etwas viel Aufmerksamkeit zuteil geworden. „Niemand wird sich nach uns umschauen.“
Da kannte ich Schleswig-Holstein aber schlecht. Sie schauten sich um, sie blieben teilweise offenen Mundes stehen, und sie erwiderten unseren freundlichen Gruß mit abschätzigen kalten Blicken von oben nach unten und wieder zurück. Dann jedoch kam der Hausbrand von Mölln. Am nächsten Tag grüßte uns jeder im Dorf. Es grüßte sogar der Mann, der jeden Morgen seinen Spaziergang unterbrach, um stehen zu bleiben und reglos unserem Auto nachzustarren, bis er aus unserem Rückspiegel und wir vermutlich aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Jeden Morgen, anderthalb Jahre lang, solange wir dort wohnten. Sogar er und seine Frau grüßten nach Mölln. Das ging für ein paar Wochen so, und dann war alles wieder beim Alten.
Schließlich geschah der nächste Hausbrand, in Solingen. Aber da war man schon nicht mehr so erschüttert. Bereits einen Tag nach Solingen war zu hören: „Das haben die Türken sich doch selbst zuzuschreiben.“ Der das sagte, war kein Nazi und kein Skinhead, sondern ein netter junger Mann vom nächsten Dorf. Einen Tag nach Mölln und einer nachbarschaftlichen Warnung vor den Skinheads vom anderen Dorf kauften wir uns Gaspistolen. Mit uns im völlig überfüllten Waffengeschäft: etwa fünfzehn Türken, die offenbar die gleiche Idee gehabt hatten. Schleswig-Holstein im Jahre 1992.
In seinem letzten Jahr in Norddeutschland verließ mein Mann die Wohnung nur noch, wenn er unbedingt musste und nur noch im Auto. Was sollten wir auch draußen? Es macht keinen Spaß, im Restaurant zu sitzen, wenn am Nebentisch jemand mit Blick auf ihn laut von all den verdammten Scheinasylanten zu reden beginnt.Wir zogen um nach Göttingen.
Es war eine Befreiung. Dennoch lag auch dort zwischen dem Deutschland, das meine Kinder so entzückend fand, und dem Deutschland, das sie irritiert anstarrte, nur eine Freitagnacht. Denn unter der Woche ging ich allein in die Stadt, und dann waren meine Kinder süß. Am Wochenende ging mein Mann mit, und dann pflegten die Blicke der Leute fragend, ratlos oder indigniert zwischen mir, ihm und den Kindern hin und her zu wandern.
Aber Ihr Mann war doch beim Max-Planck-Institut, werden Sie jetzt vermutlich sagen. In einer internationalen Forschergemeinschaft. Am Göttinger Institut waren rassistische Bemerkungen möglich (Kostprobe: „Ganz schön schwarz, wie?“ über einen Bewerber aus Ghana), die im Kindergarten meines Sohnes verboten waren. Ich vermute, Rassismus ist Teil des deutschen Wissenschaftsbetriebs, und daher erklärte sein wohlmeinender Doktorvater meinem Mann, dass er sich nicht der Illusion hinzugeben brauche, als Ausländer in Deutschland je in eine Spitzenposition zu kommen. Wir hatten einige Beispiele vor Augen und wussten, dass er Recht hatte.
Vielleicht hätte man im Institut auch nicht so ohne weiteres die Ergebnisse der Diplomarbeit meines Mannes unter anderen Namen publiziert, wenn man mit ihm als Ausländer nicht ein besonders leichtes Spiel gehabt hätte. Als Kollege blieb er im Max-Planck-Institut außen vor. Sie fragten ihn nicht, wenn sie etwas wissen wollten, was nur er aus erster Hand wusste. Er wurde nicht integriert. Er ebenso wenig wie der Koreaner oder die indische Kollegin, deren Versäumnis, ein Waschbecken auszuwischen, mit den Worten kommentiert wurde: „Haben die in Indien keine Waschbecken, oder was?“
Integrieren hat etwas mit Respektieren zu tun, und ohne Respekt ist keine Integration möglich. Es gelang ihnen nicht, sich seinen einfachen zweisilbigen Vornamen zu merken, sodass er sich nach einiger Zeit schließlich selber nur noch einsilbig vorstellte. Warum ist mein Mann, der kein Verhältnis zu den deutschen Kollegen fand, bei seinen kalifornischen Kollegen ein beliebter und hoch angesehener Mitarbeiter? Weil es ihnen egal ist, dass er Chinese ist. Sie wissen sogar, wie er richtig heißt. So einfach kann Integrieren sein.
Erwähnen will ich noch die unvergessliche Raumpflegerin im Max-Planck-Institut, der es gelang, ein Schicksal in einem einzigen Satz zusammenzufassen. „Entschuldigung“, hatte mein Mann sie gefragt, „können Sie mir sagen, wo hier das Zimmer des Direktors ist?“ – „Was willst du da?“, fragte sie zurück. „Ich möchte fragen, ob ich hier meine Diplomarbeit schreiben kann“, erwiderte er höflich. „Hier ist nichts für dich“, sagte sie.
Er war als Erster seines Jahrgangs mit der Doktorarbeit fertig, zu einem Zeitpunkt, als alle Deutschen, die wir kannten, noch an der Diplomarbeit saßen. Aber leitende Stellung? Spitzenposition? Ach was. Hier ist nichts für dich.
Hat es auch Gutes gegeben in neun Jahren Deutschland? Es hat viel Gutes gegeben: liebenswerte WG-Bewohner, einen freundlichen Kinderarzt, eine nette Nachbarfamilie, einen wunderbaren Kindergarten, meine Freunde und die der Kinder. Aber gleicht die Freundlichkeit der einen die Verachtung der anderen aus?
Gewiss bin ich vielen Menschen in Deutschland dankbar. Den Vermietern, denen es nichts machte, dass mein Mann Taiwaner war. Der Mutter, die sich auf einer Party mit ihm eine ganze Stunde lang persönlich von Angesicht zu Angesicht unterhielt. Das ist sogar zweimal vorgekommen. Der Standesbeamtin, die ihre eisige Ablehnung schließlich doch noch ablegte: „Ja, Sie zwei hätte ich auch gerne getraut.“ Den WG-Bewohnern in Hude, die ihn in Zeiten größter Wohnungsnot und Asylantenhetze bei sich aufnahmen und seine besten Freunde blieben. Seinem Doktorvater, der ihm keine Ergebnisse stahl und ihn fair behandelte. Dem Nachbarn, der mit ihm über eine Stunde in Eiseskälte unser Auto reparierte, dankbar nicht mal wegen des Autos, sondern weil sich mein Mann als Nachbar fühlen durfte, dem man helfen mochte.
An jenem Tag war ich glücklich. An jenem Tag hatte ich eine Vision: Stell dir vor, es ist Deutschland und dein Mann ist ein Nachbar. Kein Ausländer, der aber nett ist (Ausländer sind immer nur aber nett). Sondern ein Nachbar. Jedem war ich dankbar, der ihn für voll nahm, der mit ihm sprach, ihn dabei ansah, ihn behandelte wie einen Menschen. Keinen Einzigen und keine Einzige haben wir vergessen. Denn es gab viel zu wenige von ihnen.
Vielleicht waren wir zu empfindlich? Das sagten meine Eltern, die uns gerne in Deutschland behalten hätten. Das sagten sie bis zu dem Tag, als ihre örtliche Kolonialwarenhändlerin meinem Mann ein simples Additionsproblem duzend, herablassend und falsch erklärte. Da waren sie viel fassungsloser als wir, weil sie das nie von der netten Frau gedacht hätten. Doch sie war nur eine von vielen netten Menschen, von denen man das nie gedacht hätte.
Hier scheidet sich das Deutschland, das die Deutschen kennen und für ein offenes, tolerantes und zivilisiertes Land halten, von dem Deutschland, das asiatische oder afrikanische Männer kennen lernen. Jetzt weiß ich, warum so viele Türken auf ein Lächeln von Deutschen nicht mehr reagieren. Ich hätte es lieber nicht herausgefunden.
Wir sprachen eher selten über unsere Erlebnisse. Es macht keinen Sinn, den netten Leuten, die man kennt, den Tag zu verderben. „Ja, danke, gut“, war die Standardformel meines Mannes, wenn er gefragt wurde, wie es ihm denn so gefiele in diesem Land, das seinem Selbstwertgefühl ständig zusetzte. Warum auch darüber reden? Das Thema, das man in Deutschland Ausländerfeindlichkeit nennt, geht doch allen auf die Nerven.
Vielleicht kann man es anders nennen? Etwa, dass es jedem Menschen wehtut, verachtet und ausgegrenzt zu werden, dass es Spuren hinterlässt und Dämonen des Zorns, der Verunsicherung und Ohnmacht, die nicht weggehen wollen? Kennen wir nicht alle das Gefühl, das wir als Kinder hatten, wenn man uns nicht mitspielen ließ?
Ich habe die unsägliche „Kinder statt Inder“-Kampagne im Internet verfolgt und frage mich, ob die Verantwortlichen wenigstens ahnen, was sie im Leben anderer Menschen anrichten. Woher nehmen sie sich das Recht? Hier, in Kalifornien, könnte und würde Herr Rüttgers wegen Anstiftung zur Rassendiskriminierung angeklagt werden. Jeder darf hier ein Mensch sein. Jeder hat hier das Recht auf die Unversehrtheit seiner Menschenwürde. Denn Kalifornien würde bei seinem Rassen- und Völkergemisch Selbstmord begehen, wenn es zuließe, dass die einen dumme Bemerkungen über die anderen machen dürfen bloß wegen deren Volkszugehörigkeit.
Mein Mann wird von kalifornischen Männern und Frauen für voll genommen. Sie reden mit ihm, sie schauen ihm ins Gesicht. Sie lächeln ihn an. Sie behandeln ihn mit Respekt. Und sie achten ihn für das, was er leistet. Alle. Deutschland hätte unsere Heimat werden können. Es wollte nicht.
HANNE CHEN, Jahrgang 1961, ist Sinologin. Seit Sommer 1999 lebt sie mit ihrem Mann Chao-kung Chen und ihren beiden Kindern in Kalifornien
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