Die „Mitte“ ist keine neue Erfindung

Der Historiker Paul Nolte skizziert den Wunsch der Deutschen, in einer homogenen Gesellschaftder Harmonie zu leben – diese utopische Hoffnung teilten Linke wie Rechte seit dem 19. Jahrhundert

Großes Gedrängel herrscht heutzutage im Zentrum der Gesellschaft: Die CDU wirbt um die „bürgerliche Mitte“ und wähnt sich ansonsten „mitten im Leben“, während die SPD die „neue Mitte“ für sich entdeckt hat, die Englands Premier Tony Blair erfunden haben soll. Jenseits der Bewertungen gilt eines meist als sicher: dass es sich tatsächlich um einen frischen Trend handelt.

Irrtum. Die Sehnsucht nach der Mitte reicht bis weit ins vorletzte, ins 19., Jahrhundert zurück. Man könnte sie als eine der prägenden Gesellschaftsideen der Deutschen bezeichnen. Die Geschichte dieser „sozialen Selbstbeschreibung“ hat jetzt der Bielefelder Historiker Paul Nolte in seiner Habilitation nachgezeichnet – vom Marxismus über den Liberalismus bis hin zum Nationalismus: Die Unterschiede waren oft nur scheinbar groß, wie Nolte zeigt. Denn alle Strömungen verband der Wunsch, in einem möglichst homogenen Gemeinwesen zu leben. Während die Kommunisten die klassenlose Gesellschaft anstrebten, hofften die anderen auf die einigende Kraft des Nationalen. Deutsche zu „Volksgenossen“ in einer „Volksgemeinschaft“ zu machen – diesen Leitgedanken vertraten dann ganz selbstverständlich auch Liberale und Sozialdemokraten in der Weimarer Republik. Der Übergang zu den völkischen Vorstellungen des Nationalsozialismus war fließend. Und immer wieder tauchte die Forderung auf, die gesellschaftliche „Mitte“ zu stärken.

Diese identische Statik im Fundament der Ideologien verwundert nicht. Schließlich litten die meisten Deutschen an den Folgen der Industrialisierung: also an der „Vermassung“ und an der „Klassengesellschaft“. Die Spaltung der Gesellschaft in „unten“ und „oben“ wurde überdeutlich wahrgenommen und gleichzeitig vehement abgelehnt. Diese Verzweiflung an der Gegenwart führte zu einer weiteren Eigenart, die die Gesellschaftskonzepte in Deutschland teilten: Sie waren nicht nur Beschreibung des Gegebenen, sondern gleichzeitig immer auch Zukunftsentwurf, Utopie, Vision.

Diese Ära scheint vorbei zu sein. Denn dass wir heute in einem utopiefreien, „entideologisierten“ Zeitalter leben, gehört zu den Gemeinplätzen des politischen Kommentarwesens. Unterwegs im letzten Jahrhundert muss es eine Zäsur im deutschen Denken gegeben haben. Nolte datiert sie auf etwa 1965. Denn nach einem Jahrhundert der verzweifelten Gesellschaftskritik und der hoffnungsfrohen Zukunftsentwürfe sei die Vision zur Gegenwart geworden: Endlich gibt es sie, die homogene Gemeinschaft der Mitte. Sie stellt sich als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ ein, wie sie der wirkungsmächtige konservative Soziologe Helmut Schelsky schon 1953 bezeichnete.

Dieses Gesellschaftsbild hat einen realen und einen subjektiven Aspekt. Real spiegelt es die Entwicklungstendenzen der industriellen Gesellschaft. Schon zur Jahrhundertwende war aufgefallen, dass der Mittelstand überproportional zunahm, vor allem die Schicht der Angestellten. Dies überraschte, denn schließlich hatte Marx prognostiziert, dass der Mittelstand zwischen den Klassen des Proletariats und der Kapitalbesitzer zerrieben würde. Stattdessen orientierten sich die Arbeiter nach „oben“. Aus Arbeitern wurden Mitarbeiter, die sich im Habitus und im Einkommen den Angestellten anglichen.

Zentral für die Einebnung der sozialen Unterschiede in Deutschland waren aber auch Krieg, Flucht und Vertreibung. Die massenhafte Vernichtung von Vermögen und sozialem Status hat die Gesellschaft nachhaltig „verflüssigt“. Hinzu kam das „Wirtschaftswunder“: Endgültig wurden aus Klassen Konsumenten, die sich bald Wohnungen mit Bad, WC und Zentralheizung sowie Radio oder Motorrad leisten konnten und später auch Fernseher, Auto und Kühlschrank. Soziale und materielle Unterschiede gab es zwar noch, aber sie erschienen immer unerheblicher, da doch jetzt fast jeder in der Flut der Massenartikel schwamm. So zeigte sich auch ein „subjektiver Trend zur Mitte“. Ab den Fünfzigerjahren ordnen sich sowohl die Unterschichten wie die Eliten in Umfragen dem Mittelstand zu. Nicht alle diese Einsichten sind neu. Neu sind eher die historischen Quellen, die Nolte heranzieht. Zwar will er eine „möglichst breite Vielfalt von Textsorten“ berücksichtigen, faktisch stützt er sich jedoch vor allem auf Werke deutscher Soziologen. Trotzdem will er keine „Dogmengeschichte oder Institutionengeschichte der Soziologie“ schreiben. Nein, es soll eine „Geschichte der sozialen Selbstbeschreibungen“ in Deutschland sein, die ganz im Sinne der Diskurstheorie von Foucault die Wahrnehmungen und Erfahrungen der unterschiedlichen Schichten berücksichtigt. Hier scheint sich jedoch ein immanentes methodisches Problem aufzutun: Wie soll philosophisch-politische Höhenkammliteratur das Denken aller Schichten und Gruppen abbilden? Eine Problem, das Nolte selbst sieht: „Diese Verknüpfung der verschiedenen Diskursräume wird nur unvollkommen gelingen, und der Einwand einer Bevorzugung der Selbstäußerungen einer vergleichsweisen schmalen Akademiker- und Intellektuellenschicht wird sich schwer abweisen lassen.“ Nolte gibt ganz ehrlich zu, dass er sich aus „pragmatischen Gründen“ für die soziologischen Quellen entschieden hat. Allerdings – so die Begründung – sei die Soziologie eine „Krisenwissenschaft“ und daher ein „Seismograf“ des gesellschaftlichen Bewusstseins.

Selbst wenn dies zunächst als Arbeitsthese einleuchten mag: Es rechtfertigt keinesfall die ausufernde Beschreibung der Binnenentwicklung der deutschen Soziologie. Langwierig wird über die Gründung der Disziplin berichtet, über Debatten, Richtungskämpfe, Protagonisten. Dies füllt mehr als ein Drittel des Buches – und verwechselt dann doch die Soziologiegeschichte mit der Geschichte der deutschen Gesellschaftsvorstellungen.

Vor allem aber: Die soziologischen Texte überzeugen nur dann als Quelle für das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein, wenn sie entweder ein verlässlicher Spiegel sind oder die Bevölkerung stark geprägt haben. Nolte verweist daher gern darauf, dass soziologische Wortschöpfungen wie „Wohlstandsdenken“, „Sozialprestige“ oder „Lebensstile“ in die deutsche Alltagsssprache eingedrungen seien. In der Tat. Aber wie viel hat sich von den Konzepten dahinter vermittelt? Schon gar nicht dürften die dazugehörigen Wissenschaftsdebatten bei der Bevölkerung angekommen sein, die so ausführlich dargestellt werden. So lässt sich Noltes eigene Vermutung uneingeschränkt bestätigen, dass er „methodisch problematisch“ vorgeht.

Anscheinend ist er trotzdem gelassen geblieben, denn seine Habilitation ist gut gelaunt und gut geschrieben – mit netten Seitenhieben; so, wenn er die „Zweidrittelgesellschaft“ als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft mit sozialem Gewissen“ charakterisiert. Leider neigen die flotten Formulierungen zur Redundanz. Der Hinweis etwa, dass sich das Freizeitverhalten der Arbeiterjugend immer mehr dem der bürgerlichen Jugend angeglichen habe, findet sich an zahlreichen Stellen des Werks. Oft hätte man sich mehr Dichte und Konzentration gewünscht – aber auch einen europäischen Vergleich, und sei es nur in Ansätzen. Denn so bleibt die Frage unbeantwortet, ob der Drang zur Mitte ein Teil des deutschen Sonderwegs ist.

ULRIKE HERRMANN

Paul Nolte: „Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert“. C. H. Beck, 2000. 520 Seiten, geb., 88 DM

Hinweise:Die Zäsur im deutschen Denken datiert Nolte auf 1965Nolte geht in seiner Studie methodisch problematisch vor