Kein Abspeckprogramm

Psychische Probleme und kaputte Knie: Immer mehr Hamburger Kinder leiden an Übergewicht. Zwei Programme sollen helfen  ■ Von Kathi Schiederig

Beim Fußball darf Kevin höchs-tens mal im Tor stehen. Wenn er im Bus „Fette Sau“ genannt wird, spendiert ihm seine Mutter zum Trost eine Tafel Vollmilch-Nuss. Kevin ist elf und wiegt 83 Kilo. Und er steht stellvertretend für 9 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Hamburg, die so stark übergewichtig sind, dass sie Schwierigkeiten im Alltag haben. Neben gesundheitlichen Problemen wie Kreislaufbeschwerden oder kaputten Knien leiden sie besonders unter den seelischen Folgen ihres Aussehens.

Kindern wie Kevin kann geholfen werden. Erst eineinhalb Stunden Zirkeltraining, dann gemeinsames Kochen und zum Schluss ein Rollenspiel gegen dumme Anmache ist das Pensum beim regelmäßigen Treffen in der „Moby Dick“-Gruppe. Das Hamburger Gesundheitsprogramm für Kinder, „die 30 Prozent oder mehr über dem eigentlichen Sollgewicht ihrer Altersgruppe“ auf die Waage bringen, wurde 1998 von der Schulärztin Dr. Chris-tiane Petersen entwickelt. Sie sah, dass es zwar immer mehr, immer dickere Kinder gab – die Zahl der Übergewichtigen in Deutschland insgesamt hat sich in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt –, aber keine wirksamen Hilfsangebote.

Ein Abspeckprogramm ist „Moby Dick“ daher nicht. „Keine Diät für Kinder und Jugendliche“, warnt die Medizinerin. Hungerkuren hätten nur einen „JoJo-Effekt“ zur Folge. Ziel des Programms ist stattdessen der Zunahme-Stopp. Durch das Wachstum würden die meisten Kinder dann „von selbst“ schlanker.

Um dies zu erreichen, arbeiten die zehn Hamburger „Moby Dick“-Gruppen auf drei Gebieten: Ess- und Koch-Training zur Veränderung der Ernährung, Sport für mehr Bewegung sowie psychosoziale Behandlung. Denn die meisten di-cken Kinder haben seelische Probleme und ein extrem niedriges Selbstwertgefühl. Manche erst, seit sie übergewichtig sind. Viele aber futtern sich im Wortsinn „Kummerspeck“ an, weil sie missbraucht wurden oder in schwierigen familiären Verhältnissen leben.

Übergewicht bei Kindern hat viele Gründe. Krankheiten wie Schilddrüsenunterfunktion oder gar eine Nierentransplantation spielen eine Rolle – und nach neuen Erkenntnissen auch Vererbung. Zudem sind fast alle übergewichtigen Kinder fehlernährt. Die Eltern essen aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit falsch, die Kinder futtern mit. Cola zum Frühstück, in der Pause ein Schokokussbrötchen, später ein Burger – diesem Essverhalten versucht die Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung mit Ernährungsberatung an Grundschulen zu begegnen. „Viele Schüler bekommen weder Frühstück noch Pausenbrot“, hat Geschäftsführerin Margrit Schlankhardt beobachtet. „Stattdessen kaufen sie sich Schnecken und Mars.“ Dabei sei eine ausgewogene Ernährung für Kinder mit einfachen Mitteln umzusetzen: weniger Süßes, wenig Fett, dafür viel Obst und Gemüse und zum Beispiel dunkles statt helles Brot – kein Problem, wenn die Familie mitzieht.

Doch da liegt die Schwierigkeit. Darum setzt neben „Moby Dick“ auch das zweite Hamburger Projekt in der Tagesklinik im Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift auf eine Verhaltensänderung bei den Eltern und schult sie in Extra-Programmen ebenfalls. Die Patienten kommen zunächst für fünf Tage und später alle vier Wochen in die Klinik, um ein ähnliches Pensum wie bei Moby Dick zu absolvieren. Der leitende Arzt Dr. Klaus-Peter Otto sieht das zunehmende Übergewicht auch als gesellschaftliches Problem. „Nahrung, vor allem kalorienreiche, ist heute jederzeit verfügbar. Es gibt keine Essrituale mehr, und Kinder bewegen sich immer weniger.“

Doch egal, weshalb sie dick sind, übergewichtige Kinder leiden unter den Reaktionen auf ihr Aussehen: „Dicksein wird als persönliches Versagen definiert, nach dem Motto: Selber schuld!“, sagt Otto. „Dabei sind es äußere Faktoren und nicht der eigene Wille, die ein Kind dick machen.“

„Moby Dick“: Infos unter 32 52 52 38; Wilhelmstift: Einweisung durch den Kinderarzt