: Wo Geldhaie stranden
Ein nordbrasilianisches Tourismusprojekt bekam auf der Internationalen Tourismusbörse in Berlin den TO DO!-Preis für Sozialverträglichkeit. Eine Stippvisite in Prainha do Canto Verde
von NORBERT SUCHANEK
Das Leben beginnt früh in Prainha do Canto Verde. Wenn die Sonne aufgeht, gegen sechs Uhr, sind alle im Dorf wach und mehr oder weniger beschäftigt. Die Fischer sind bei ihren Netzen oder Segelbooten am Strand, andere arbeiten in ihren Gärten. Eine Gruppe von zehn- bis zwölfjährigen Mädchen wartet vor der Dorfschule. Sie vertreiben sich die Wartezeit indem sie „Mannequin“ spielen. Die Terrasse der Schule dient ihnen als Laufsteg.
Prainha do Canto Verde ist eines der letzten traditionellen Fischerdörfer im Nordosten Brasiliens. Es liegt rund 120 Kilometer südöstlich von Fortaleza, der Landeshauptstadt Cearas, und besteht im Großen und Ganzen aus ein paar Dutzend verstreut liegender kleiner Häuser mit mehr oder weniger üppigen Vorgärten, einer Schule, einer Bäckerei, einem Dorfladen, zwei einfachen Pensionen, einem Fischereihaus, wenigen Palmen, keiner Kirche und einem endlos langen und breiten Sandstrand. Jeden Morgen warten dort mehrere Jangadas darauf, ins morgendlich silbergraue Meer geschoben zu werden. Jangadas sind kleine, traditionelle, je mit einem Dreiecksegel bestückte Fischerboote, die flach wie Flöße und bis etwa fünf Meter lang sind. Die Männer – und manchmal auch Frauen, die sich mit diesen Booten weit aufs Meer hinaustrauen, um dort bis zu vier Tage lang am Stück zu fischen, heißen in Brasilien Jangadeiros. Die Jangadas von Prainha do Canto Verde sind nicht nur Teil eines nachhaltigen Fischereiprojektes zusammen mit dem internationalen Marine Stewardship Council und dem Instituto Terramar zur nachhaltigen Küstenentwicklung von Ceara. Die Jangadas sind auch „Markenzeichen“ des Projeto de Ecoturismo de Prainha do Canto Verde.
Die meisten der rund 1.100 Einwohner Canto Verdes sind entweder Fischer oder stammen aus Fischerfamilien. Auch der 38-jährige João ist Jangadeiro und Sohn eines Jangadeiros. Mit kurzen Hosen und nacktem Oberkörper kommt er gerade vom Strand herauf und trägt zwei prächtige, unterarmgroße Fische in der Hand. „Bonitos (Thunfische)“, sagt er und zeigt sie mir stolz lächelnd. Seine Frau werde sie uns zum Abendessen zubereiten. Anders als sein Vater fischt João nur gelegentlich. Ihm gehört zusammen mit seiner Frau Aila die Pension „Sol e Mar“, wo ich mich einquartiert habe. Die kleine, einfache Pension ist Teil des Projeto de Ecoturismo de Prainha do Canto Verde. Ebenso die Privatzimmer und zwei Ferienhäuschen, die einige Fischerfamilien an Urlauber vermieten. Denn anders als in den meisten Tourismusregionen Brasiliens oder anderer Entwicklungsländer sollen hier in Canto Verde nicht große Hotelunternehmen oder ausländische Investoren an den Urlaubern verdienen, sondern die Einheimischen vor Ort selbst. Dies ist einer der Gründe, weshalb das Öko-Tourismusprojekt Canto Verdes vergangenen März in Berlin einen TO DO!-Preis des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung für sozial verantwortlichen Tourismus verliehen bekam.
Der heute 59 Jahre alte Schweizer René Schärer ist Koordinator der privaten Entwicklungshilfeorganisation Amigos da Prainha do Canto Verde und Initiator des lokalen Fair-Trade-Tourismusprojekts. Bis 1992 verlief das Leben des Schweizers René Schärer nach dem Muster einer Bilderbuchkarriere. Als leitender Swiss-air-Manager in São Paulo, am Höhepunkt seiner Karriere angekommen, stieg Schärer aber plötzlich aus – und ein in das „Abenteuer“ einer basisorientierten Entwicklungshilfe. Seit 1992 lebt er in Prainha do Canto Verde und setzt sich dort für die Verbesserung von Gesundheitsversorgung, Bildung und Einkommen der Fischerfamilien sowie für eine ökologische, nachhaltige Entwicklung in der Küstenregion ein. „Wichtig ist, dass der Tourismus hier in Canto Verde nur eine zusätzliche Einnahmequelle darstellt“, sagt er. „In erster Linie ging und geht es uns darum, dass die Fischerei hier in Canto Verde nachhaltig betrieben wird.“
„Wir haben hier noch etwa 150 Jangadeiros“, sagt João. Doch weil Raubfischer aus anderen Gegenden die Fischgründe Canto Verdes in der Vergangenheit fast kaputtgeplündert haben, reiche es nicht mehr zum Leben. Haifische beispielsweise gebe es draußen in den Fanggründen so gut wie keine mehr. Sie wurden rücksichtlos leergefischt, nur um ihnen die Flossen abzuschneiden. Nun hätten es die Raubfischer vor allem auf die lukrativen Langustenbestände abgesehen, die normalerweise den Hauptverdienst der Jangadeiros von Canto Verde ausmachen. Der Tourismus solle die Einnahmen aus dem Fischfang ergänzen, nicht ersetzen. „Ein Turismo tranquilo“, betont João. „Wir wollen hier keinen lauten Tourismus, keinen Massentourismus wie in Canoa Quebrada.“
Das einstige Fischerdorf Canoa Quebrada, nur knapp sechzig Kilometer weiter südlich, dient den Menschen von Prainha do Canto Verde seit Jahren als abschreckendes Beispiel. Einige Dorfbewohner haben dort in der Region Bekannte oder Verwandte und kennen deshalb die Situation der Einheimischen von Canoa aus erster Hand. Schon vor etwa zwanzig Jahren entwickelte sich Canoa zu einem beliebten Ziel für „Hippies“ und „Teilzeitaussteiger“ vor allem aus Europa. Nach und nach kauften dann „Hippie-Touristen“ und Hotelunternehmen für wenig Geld Häuser und Land der Fischer auf, bauten ein Hotel, ein Restaurant neben dem anderen. Es entstand eine Vergnügungsmeile mit zweifelhaften Kneipen und Sextourismus, ein „Broadway“, wie die Leute hier sagen. Die ehemaligen Fischerfamilien Canoas leben nun irgendwo hinter den Dünen und verdingen sich diesem Massentourismus als billige SaisonarbeiterInnen oder sind gänzlich verarmt.
Eine ähnliche, aber im Vergleich zu Canoa – so João – noch „harmlose“ Tourismusentwicklung spielt sich derzeit im nur rund zwanzig Kilometer entfernten Morro Branco ab. Dort gibt es zwar noch Jangadeiros, doch auch sie leben nicht mehr am Strand. Statt Fischerhäusern stehen nun Pensionen und Restaurants dort, und ein gutes Dutzend Bars bevölkern den Strand. Um zehn Uhr morgens kommen die ersten vollklimatisierten Reisebusse aus Fortaleza mit Tagestouristen. Morro Branco mit seinen eindrucksvollen, steilen Sand- und Lehmklippen – ähnlich Portugals Algarve – wird für einige Stunden zu einem lärmenden Vergnügungsspielplatz für Tagesgäste. Prainha do Canto Verde ist eine Erholung dagegen.
Seit kurzem führt zwar eine schmale, frisch asphaltierte Straße nach Canto Verde. Die großen, klimatisierten Reisebusse des Tagesmassentourismus fahren aber nicht hierher. Damit dies auch in Zukunft so bleibt, dafür steht die Vereinigung der Dorfbewohner Canto Verdes, die Associação dos Moradores. Statt echter Haifische suchen seit 1991 zwar immer wieder Immobilienhaie die Küste Canto Verdes heim und versuchen, billig Häuser und Grundstücke aufzukaufen. Doch die Associação dos Moradores hat den Spekulanten längst durch ein strenges, lokales Boden- und Eigentumsgesetz einen Riegel vorgeschoben. „Häuser und Grundstücke dürfen nur mit Genehmigung der Associação dos Moradores verkauft werden“, heißt es im Regelwerk für die Landnutzung Prainha do Canto Verdes.
Bereits siebzig Personen des Dorfes arbeiten im Tourismus. „Die einen arbeiten in der Kochgruppe, die anderen im Servicebereich oder werden als Fremdenführer ausgebildet. Daneben vermieten sechs Familien Privat- oder Pensionszimmer. Insgesamt hat Canto Verde bisher Übernachtungsmöglichkeiten für knapp über dreißig Gäste“, erzählt René Schärer.
Canto Verde ist kein rückständiges Dorf, in dem die gute alte Zeit konserviert wird. Im Gegenteil. Dank der Hilfsorganisation Amigos de Prainha do Canto Verde ist die Dorfschule moderner ausgestattet als die meisten Schulen in Brasilien. Die einst auch hier hohe Kindersterblichkeit wurde mit Hilfe eines Gesundheits- und Ernährungsprogramms praktisch auf Null gesenkt, und im Fischereihaus wird derzeit mit einer modernen UV-Anlage experimentiert, um das leiderstark mit koliformen Bakterien verseuchte Grundwasser zu entkeimen. Unhygienisches Trinkwasser ist ein ernstes Problem, das nicht nur Prainha do Canto Verde betrifft, sondern wahrscheinlich die meisten Gemeinden Brasiliens. Denn im größten Land Lateinamerikas gibt es so gut wie nirgends eine vernünftige Abwasserentsorgung. Die Fäkalien „verschwinden“ einfach in einem Loch im Boden, im nächsten Fluss oder werden über eine mehr oder weniger lange Leitung ungeklärt ins Meer abgelassen. Aber die Freunde von Prainha do Canto Verde haben auch dafür eine langfristige Lösung dieses Problems in der Schublade: Trockentoiletten, die statt gesundheitsgefährdenden Abwassers wertvollen, keimfreien Humus produzieren.
Die Finanzierung des Projektes stehe bereits, sagt der Schweizer René Schärer. „Wir könnten sofort jedes Haus in Prainha do Canto Verde mit einer Trockentoilette ausstatten.“ Doch die Leute müssten es erst wirklich wollen. Deshalb steht vor der Einführung der Trocken- oder Humustoilette ein, so René, „breit angelegtes Erziehungsprogramm“. Es nütze nichts, moderne, alternative Toilettensysteme zu installieren, wenn die Dorfbewohner noch von Bädern oder Wassertoiletten träumen, wie sie sie in den Telenovellas, in den Häusern der reichen Familien São Paulos oder Rios im Fernsehen sehen. AuchPrainha do Canto Verde ist keine Insel der Seligen, und Satelliten senden überall hin.
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