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berliner ökonomieSpiritueller Widerstand und das Leben auf der Straße

NACHHALTIGE OBDACHLOSIGKEIT

Was ist bloß mit der Obdachlosenzeitung motz los? Dieses ganze Ge-Relaunche mit immer weißeren Seiten und dem geradezu üppigen Farb-Layout mag ja noch angehen für alte, spätbürgerliche Blätter wie die Zeit, die nichts mehr zu sagen haben, aber doch nicht für ein neues, sozial engagiertes Selbsthilfeprojekt! Dazu wimmelt es in der motz von ganzseitigen Eigenanzeigen, die so aussehen, als hätte man nicht genug Texte. Kurzum: Diese Obdachlosenzeitung ist grottenschlecht geworden.

Als die Philosophin Sonja Kemnitz in Berlin nach der Wende mit der motz anfing und auch mich als Schreiber dazuholte, war die Redaktionstruppe noch ganz hilflos: Was sollte das Ganze? Mir war das so unklar, dass ich bald das Handtuch warf. Obwohl ich selbst schon mindestens zehnmal obdachlos war und bei Freunden übernachtete, während meine Sachen irgendwo in einem Keller eingelagert waren. Gewiss, ich war nicht sonderlich drogenabhängig – und dieses „Abrutschen“ geschah ohne Angst, höchstens mit ein bisschen Trotz bis Stolz. „Auf der Straße“ machte sich sogar Erleichterung breit, Unternehmungslust gar. Statt eines Verzeichnisses aller Suppenküchen hatte ich mein Adressbuch – eine Art alternative Sozialversicherung. Also klapperte ich erst mal meine Freunde und Genossen ab – und versuchte dabei auf neue Gedanken zu kommen. Zuletzt war das ein Reiseunternehmen namens „Penner-Tours“, das saisonal-antizyklisch mit einem Bus und einigen Geldgebern die europäischen Penner-Hotspots abklappern sollte, um „wertvolle Erfahrungen zu sammeln“. Die Idee kam nie über den Selbstversuch hinaus. Irgendwann fand ich Arbeit und auch wieder ein Obdach. Ein ähnlich gepolter Kollege von mir, der beim Zeit-Magazin arbeitete, ertrank derweil in einem kleinen Fluss, beim Versuch, seinen Hund zu retten.

Im vergangenen Herbst erschien auf Deutsch der Erfahrungsbericht des New Yorker Penners Lee Stringer, ehemals Redakteur der Obdachlosenzeitung Street News. Ein wunderbares Buch – obwohl typisch amerikanisch: Der schwarze Autor war schwer Crack-abhängig, und jeden Penny, den er beim Verkauf der Zeitung in der U-Bahn einnahm, setzte er in Dope um. Dementsprechend ist sein Bericht „Grand Central Winter“ Dokument einer Selbstheilung: Man kann es also von ganz unten wieder nach oben schaffen!

Im Zusammenhang seiner Cleaning-Therapie schreibt er: „Ich suche nicht mehr das Glimmen der Pfeife, sondern das Licht der Spiritualität.“ Zuerst habe ich darüber nicht groß nachgedacht: Die Amis brauchen immer „Spiritualität“, um sich individuell wieder zu stabilisieren – d. h. vor dem Absacken zu schützen. Ich weiß gar nicht, was das ist, Spiritualität, weil wir in Europa, und speziell die Linken hier, ganz anders ticken. Aber dann fand ich in einem Reader über den jüdischen Widerstand im deutsch besetzten Osteuropa einen merkwürdigen Satz im Nachwort: „Möglichkeit und Erfolgsaussichten jeder nicht spirituellen Widerstandsform waren entscheidend abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld, in dem sich die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung vollzog.“

Wenn ich das richtig verstanden habe, dann war der „nicht spirituelle Widerstand“ ein „physischer“ und bewaffneter – und der „spirituelle“ demnach ein „nicht physischer Widerstand“. Anscheinend ist die Spiritualität so etwas wie eine kulturell-historisch gewachsene Kraft, die einen ebenso vor dem Untergang bewahren kann wie ein Revolver – wenn es denn gelingt, ihrer habhaft zu werden.

Hier und jetzt ist es aber wahrscheinlich sehr viel leichter, sich eine Knarre zu besorgen als Spiritualität: trotz oder vielleicht gerade wegen all der kirchlichen Obdachlosenprojekte, die teilweise ob ihrer lieblosen Organisation – z. B. das Franziskanerkloster im Ostberliner Stadtteil Pankow – der Sinnlosigkeit sogar noch Vorschub leisten. Bei den Fixerprojekten gab es mal das von Selbstorganisation und politischer Verantwortung inspirierte „Release“ in der Potsdamer Straße, daneben das stramm preußisch ausgerichtete „Synanon“, wo man bei Verfehlungen mit der Zahnbürste den Fußboden schrubben musste. Nur das letztere „Projekt“ überlebte (natürlich!) – und ist heute eine Art Großkonzern zur Entsorgung und Ertüchtigung von Süchtigen aller Art.

Auf einem ähnlich despiritualisierten Idiotentrip ist auch die Obdachlosenzeitung motz. Etwas anders sieht es bei der basis-, (d. h. Verkäufer-)organisierten strassenzeitung aus, deren bärtigen Kolumnisten Wolfgang Sabath ich sehr schätze und deren Redakteur Karsten Krampitz mir schon seit langem sympathisch ist. Neulich interviewte er den „Lindenstraßen“-Penner Harry Rowohlt, und der sagte auf die Frage, ob demnächst eine Entzugstherapie für ihn bei Synanon anstehe: „Ich darf nichts sagen . . . Aber Synanon ist doch Scientology. Penner-Harry würde da nie mitmachen.“

Ein völlig harmloser Satz. Aber Synanon war darüber derart beleidigt, dass Krampitz ihnen nun einige zigtausend Mark wegen Beleidigung oder so rüberreichen soll. HELMUT HÖGE

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