Der Todkranke

Der ehemalige Leiharbeiter Michael Weber ist mit Uranstaub verseucht worden und tödlich erkrankt. Er klagt auf Schadenersatz von Siemens

Mühsam schleppte er sich am Mittwoch die Treppen zum Nürnberger Landgericht empor, schmal und verhärmt, in der Nase steckten durchsichtige Plastikschläuche, die seine Lunge 24 Stunden am Tag mit Sauerstoff versorgen. Als er den Gerichtssaal verließ, war er zu erschöpft zum Gehen, er musste im Rollstuhl geschoben werden. Der 48-jährige Michael Weber ist schwer gezeichnet. 85 Prozent seiner Lunge sind durch eine Fibrose zerstört. Weber war als 19-jähriger Leiharbeiter über eine Zeitarbeitsfirma in dem Hanauer Brennelementewerk der Siemens-Tochter RBG beschäftigt, und zwar in der Uranmühle.

Dort habe er, sagte er aus, an seinem 24. Arbeitstag, dem 5. Februar 1971, am Mahlwerk versehentlich auf einen falschen Knopf gedrückt und sei von oben bis unten mit einer aus einem Fass entwichenen, schwarzen Uranstaubwolke bedeckt gewesen. Die Halle sei von Männern mit Schutzanzügen gereinigt, er aber sofort und ohne Warnung oder ärztliche Untersuchung fristlos entlassen worden. Weber ist seit 1992 von der Berufsgenossenschaft als Atomopfer anerkannt und bekommt eine Rente. Er hat den Konzern wegen mangelnder Sorgfaltspflicht auf drei Millionen Mark Schadenersatz und Schmerzensgeld verklagt.

Die Siemens-Anwälte und deren Gutachter erklärten, Weber könne gar kein Strahlenopfer sein. Sie nannten ihn indirekt einen Lügner und bestritten, dass ein solcher Betriebsunfall überhaupt stattgefunden habe. Hätte es ihn gegeben, so wäre er „wie andere Vorfälle des Jahres registriert und gemeldet worden“. Vielleicht, mutmaßte ein Firmengutachter, habe sich Weber seine Krankheit als Pferdebesitzer zugezogen. Auch Schimmelpilze im Heu könnten Lungenfibrose, die „Farmer-Krankheit“, verursachen. Einen Vergleich schloss die Firma aus.

Weber ist gelernter Dekorateur und seit 20 Jahren Jahren krank. Die Krankheit brach plötzlich aus. Er musste seine Messebaufirma schließen und Konkurs anmelden. Zeugen für den Unfall hat er nicht. Er will weiter um Anerkennung und Entschädigung kämpfen und anderen Atomopfern „Mut machen“, obwohl er sich selbst „als ein Häufchen Elend“ empfindet. Auch er lehnte einen Vergleich ab. Der Zivilprozess dürfte ein Streit der Gutachter werden. Er kann sich über Jahre, wahrscheinlich gar über die noch zu erwartende Lebenszeit von Michael Weber hinaus hinziehen. Weber nimmt das auf sich: „Ich habe nichts mehr zu verlieren.“ Siemens brauche nur auf seinen Tod zu warten: „Den Gefallen tue ich ihnen nicht. Der Prozess erhält mich am Leben.“ HEIDE PLATEN