Ein gefährlicher Traum

US-Präsident Clinton will seine Raketenabwehrpläne bald durchsetzen. Die Kritik der europäischen Regierungen daran ist halbherzig – zumal sich Deutschland seit 1995 an dem Projekt beteiligt

von ERIC CHAUVISTRÉ

Seit es Atomwaffen gibt, träumen Militärs davon, sie zu ganz normalen Waffen zu machen – zu Waffen mit kontrollierbarer Wirkung. Zu Waffen, gegen die man sich schützen kann. Die Pläne des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, der mit weltraumgestützten Laserwaffen ein perfektes Schild gegen atomar bestückte Raketen errichten wollte, waren nur der Höhepunkt dieser Arroganz der Militärplaner.

Jetzt sind die Pläne aus einer der kältesten Phasen des Kalten Krieges wieder aktuell. Im Sommer will Präsident Bill Clinton über ein neues Raketenabwehrprojekt entscheiden. Doch schon jetzt melden sich die europäischen Regierungen kritisch zu Wort. Auch beim Deutschlandbesuch Clintons hat die Bundesregierung die europäischen Sorgen vorgetragen. Sie gelten dem ABM-Vertrag von 1972, der die Zahl der Abwehrsysteme gegen weit reichende und interkontinentale Raketen in den USA und Russland begrenzt. Bis heute ist dies die Grundlage für weitere Rüstungskontrollvereinbarungen. Ein Durchmarsch der Amerikaner könnte nicht nur Gespräche über weitere Abrüstungsschritte gefährden, sondern – so fürchten die europäischen Nato-Staaten – auch die Beziehung zu Russland verschlechtern.

Die deutliche Kritik an den Plänen ist berechtigt. Gefährlich ist es jedoch, die Einwände auf den ABM-Vertrag und die Beziehungen zu Russland zu konzen-trieren. Denn sollten sich Moskau und Washington darin einig werden, dass die US-Rüstungspläne das Abkommen nicht verletzen, dann wären den Kritikern alle Argumente genommen. Und: Eine gütliche Einigung ist durchaus denkbar, denn das russische Militär könnte in der Folge auf technische Hilfe der USA für eigene Raketenabwehrprojekte hoffen. Putin wiederum könnte auf eine enge Auslegung des ABM-Vertrages verzichten, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Beziehungen zu den USA nicht zu gefährden. Seine Aussagen vor und während des Clinton-Besuches lassen sich so deuten.

Vor allem jedoch werden die USA die europäische Kritik an ihren Plänen leicht aushebeln können. Aus drei Gründen: Erstens sind die US-Pläne seit langem bekannt. Zweitens ist es auch offizielle Nato-Politik, Raketenabwehrsysteme zu entwickeln. Und drittens sind Italien und Deutschland bereits aktiv an konkreten US-Projekten zur Raketenabwehr beteiligt.

Zum ersten Punkt: Die USA haben seit der Strategic Defense Initiative (SDI) von Ronald Reagan ihre Anstrengungen auf dem Gebiet der Raketenabwehr nie wirklich reduziert. Zwar wurde nach dem Amtsantritt Clintons das illusorische Ziel eines umfassenden Schutzschilds zunächst einmal offiziell aufgegeben und zudem das symbolträchtige Kürzel SDI aus dem Vokabular der Raketenabwehrplaner gestrichen. Doch auch nach der Umbenennung der Initiative und der zuständigen Behörde durften die meisten Projekte weiterlaufen.

Die Vorgabe: US-Interventionen wie beim Krieg gegen den Irak 1991 sollen künftig auch möglich sein, wenn der Gegner Atomwaffen besitzt. Da aus Sicht vieler US-Militärplaner die Raketenabwehr den Kalten Krieg gegen das sowjetische „Reich des Bösen“ entschieden hat, wollte man fortan mit den gleichen Mitteln auch gegen die „rogue states“ vorgehen, die „Schurkenstaaten“. Dies traf sich zumindest teilweise mit den Anliegen der europäischen Nato-Staaten, die an einer Abwehr gegen die Kurz- und Mittelstreckenraketen möglicher Kriegsgegner (im Nahen und Mittleren Osten) durchaus interessiert sind.

Währenddessen – von der Öffentlichkeit unbeachtet – lief auch die Forschung für die umstrittenen Abwehrsysteme gegen weit reichende und interkontinentale Raketen weiter. Entwickeln wollte man diese Systeme erst, wenn (vermeintliche) technische Fortschritte vorliegen und ein angemessenes politisches Umfeld existiert. Dieser Moment scheint nun gekommen. Diesmal, so hoffen die Befürworter, habe man noch bessere Argumente – und zudem zwei Präsidentschaftsbewerber, die man unter Druck setzen kann. Denn wieso sollte es legitim sein, zwar die eigenen Invasionstruppen gegen Atomwaffen zu schützen, nicht aber seine Zivilbevölkerung? Wieso sollte es unmoralisch sein, Systeme zum Schutz der eigenen Bevölkerung zu bauen, während doch gleichzeitig verbündeten Staaten geholfen wird, ebensolche Systeme zu entwickeln? Es ist schwer vorstellbar, dass der demokratische Präsidentschaftskandidat Al Gore da noch klar Stellung gegen das Raketenabwehrprojekt bezieht. Sein republikanischer Kontrahent George Bush jr. ist ohnehin ein Anhänger des Projekts.

Dank der exzellenten Haushaltslage in den USA sind die Chancen der Rüstungsbefürworter so gut wie nie zuvor, eine Mehrheit im Kongress für das teure Projekt zu gewinnen. Die zu erwartende Kritik der europäischen Nato-Staaten wird leicht zu entkräften sein. Denn es war der Nato-Ministerrat, der bereits 1994 den Schutz „von Nato-Territorium, Bevölkerung und Truppen“ gegen atomar bestückte Raketen forderte. Die Bundesrepublik ging sogar schon an die konkrete Umsetzung. Seit 1995 beteiligt sie sich aktiv an der Entwicklung eines Raketenabwehrsystems. Gemeinsam mit den USA und Italien wird das Raketenabwehrsystem MEADS (Medium Extended Air Defense System) entwickelt.

Die Regierungen der europäischen Nato-Staaten wollen den ABM-Vertrag erhalten, um die Beziehungen zu Russland und speziell die Rüstungskontrollgespräche nicht zu gefährden. Mit dieser Argumentation nimmt Europa das Problem jedoch außerordentlich verengt wahr. Der Grundfehler: Wie ihre US-Kollegen hängen auch die Europäer der Illusion an, dass ein effektiver Schutz gegen Atomwaffen möglich sei. Auf beiden Seiten des Atlantiks wird immer noch in Kategorien gedacht, die bestenfalls für nichtatomare Waffen gelten. Denn gegen Atomwaffen schützt noch nicht einmal ein System, das zu 99 Prozent wirksam ist – und von diesem Wirkungsgrad gehen selbst die optimistischsten Prognosen nicht aus. Es ist schlicht nicht auszuschließen, dass einzelne Atomwaffen das Abwehrschild durchdringen könnten. Jede einzelne aber hätte verheerende Wirkungen. Dieses Wissen wiederum reicht aus, um das geplante Abwehrsystem politisch völlig unwirksam zu machen. Wenn also ein atomares Abwehrsystem sinnvoll sein soll, dann ist eine Effizienz von 100 Prozent unbedingt nötig – von dieser absoluten Verlässlichkeit wird jedoch keine Regierung, kein politisches Gremium, kein militärischer Planungsstab je ausgehen können.

Trotzdem wird weiter so getan, als könnte es eine verlässliche Raketenabwehr geben. Die Gefahr dabei: Damit wird das absolute Bedrohungspotenzial von Atomwaffen verniedlicht. Wer glaubt, dass es einen wirksamen Schutz gegen sie geben könnte, der ist schnell geneigt, sie nicht mehr mit politischen Mitteln zu bekämpfen. Ein fataler Irrtum.

Hinweise:Auch Europäer hängen der Illusion an, man könnte sich vor Atomwaffen schützenDie Kandidaten Gore und Bush werden dieses Projekt zum „Schutz“ ihrer Bürger nicht kritisieren