einwanderung ist hip: Modern regieren ohne Grüne
Was ist nur los? Noch vor ein paar Wochen waren sich Kanzler Gerhard Schröder und SPD-Generalsekretär Franz Müntefering sicher: In dieser Legislaturperiode wird es mit der SPD kein Einwanderungsgesetz geben. Ängstlich achteten sie darauf, mit der Green-Card-Regelung für Computerspezialisten keine einwanderungspolitische Diskussion loszutreten. „Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht“, verkündete Innenminister Schily.
Heute ist davon keine Rede mehr. Stattdessen fordert Schröder „Wir müssen internationaler werden“ – und präsentiert sich als weltgewandter Staatsmann: Abendessen mit Clinton in Prenzlauer Berg, die internationale Konferenz „Modernes Regieren“ in Berlin und die Green-Card-Regelung beschlossen. Schließlich kündigt Otto Schily die Errichtung einer unabhängigen Kommission zur Einwanderungspolitik an: Man erkennt die Sozialdemokraten kaum wieder.
KOMMENTARvon EBERHARD SEIDEL
Binnen weniger Wochen erfuhr das Thema Einwanderung einen radikalen Imagewechsel. Einwanderung – das klingt nicht mehr nach Überfremdung, organisierter Kriminalität und innenpolitischem Streit. Wer sich auf der Höhe der Zeit wähnt, der übersetzt Migration derzeit mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit und der Anziehungskraft des Standorts Deutschland. Die Chiffre „Computer-Inder“ hat den Bundesbürgern klargemacht: Mit eurer kleinkarierten und angstbesetzten Ausländerdiskussion könnt ihr vielleicht Mecklenburg-Vorpommern regieren, nicht aber eine Industrienation, die weiterhin in der ersten Liga mitspielen soll.
Die Union und ihr migrationspolitischer Vordenker Jürgen Rüttgers haben die Dynamik verkannt. Sie sind aus dem Rennen, seit das Spiel mit ausländerfeindlichen Ressentiments ausgereizt ist. Schröder und Schily bietet sich eine historische Chance. SPD, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und viele Bürger – selten war der einwanderungspolitische Konsens breiter als heute. In den letzten Jahrzehnten gab es keinen besseren Zeitpunkt, all die einwanderungspolitischen Versäumnisse aufzuarbeiten: Der Kanzler sitzt fest im Regierungssattel, die Arbeitslosenzahlen sinken. Die Zeit ist reif für Reformen.
Den Bündnisgrünen wird das wenig nützen. Zu ängstlich reagierten sie nach der Niederlage mit dem Doppelpass und dem Wahldesaster in Hessen. Den Zeitpunkt, mit einem ihrer originären Themen zu punkten, haben sie vertan. Sie haben es an die SPD verloren. inland SEITE 7
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