: Auf der Suche nach dem Gewöhnlichen
Das Mädchen in der Husemannstraße, das ernste Geschwisterpaar und der schöne, traurige Alltag in den Städten Berlin und Leipzig: Das Verborgene Museum und die Galerie argus fotokunst zeigen Fotografien von Ursula Arnold
Menschen im Alltag, vorzugsweise in Leipzig und Ost-Berlin, sind ihre Stärke. Anonyme Zeitgenossen auf der Straße oder in der S-Bahn, Nachbarn, Alte und Kinder, Männer und Frauen, unterwegs zum Arbeiten oder Einkaufen. Meist erscheinen sie einzeln auf Fotografien als einziges lebendiges Element zwischen maroden gründerzeitlichen Mietshäuserfassaden, auf leeren Straßen und breiten, gepflasterten Trottoirs.
„Belle Tristesse“ heißt – ein wenig romantisierend – die Werkschau von Ursula Arnold. Sie gehört, neben Evelyn Richter und Arno Fischer, zu den bedeutendsten Fotografen aus der frühen DDR. Doch erst nach der Wende wurde sie auch über Fachkreise hinaus bekannt. Die Staatliche Galerie Moritzburg, Halle, hat die jetzige Retrospektive zusammengestellt, die nach ihrem Debüt im Verborgenen Museum Berlin gezeigt wird (die Galerie argus fotokunst hat zudem eine Auswahl mit teilweise einmaligen Vintage Prints hinzugefügt). Danach wird die Ausstellung noch in Aachen, Cottbus und Halle zu sehen sein.
Die 1929 in Gera geborene Ursula Arnold kam über ihren Vater, den Fotografen Walter Musche, schon früh mit der Kamera in Berührung. Sie lernte das Handwerk bei Harry Evers in Weimar und studierte „Fotografik“ an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Aufnahmen der Zeit zeigen effektvoll arrangierte Stilleben und Schauspielerporträts, doch ihr Hauptinteresse galt dem Alltagsleben. Kurzzeitig war sie freie Fotografin für die Presse. Von 1957 bis 1985 arbeitete sie hauptberuflich als Kamerafrau für das DDR-Fernsehen, nur gelegentlich fotografierte sie im eigenen Auftrag. Ihre ungeschminkte Sicht der Dinge war angesichts rigoroser staatlicher Vorgaben fast ausnahmslos auf Ablehnung gestoßen, und sie hatte sie resigniert. „Fotografie soll propagandistisch wirken. Dies erschien mir verlogen“, sagte sie viele Jahre später. Worauf es ihr ankam: „Ein Stück Leben lebendig erhalten.“
So sind es Bruchstücke einer Alltagspassion, die aus fast vierzig Jahren DDR zu sehen sind: Nach 1990 hat Arnold das Thema aufgegeben und sich endgültig der Landschaft gewidmet. Stets hat sie im öffentlichen Raum agiert, in Stadtvierteln, denen ihre historische Aufladung anzumerken ist. Unauffällig beobachtete sie das Tagestreiben – ein aus der Ferne gesehener Umzug zum 1. Mai bleibt die Ausnahme – und fing Situationen und Konstellationen ein, die im Gedächtnis haften bleiben: Passanten im Barfußgässchen, die gebückt zu uns aufsteigende Zeitungsfrau und das ernste Geschwisterpaar vor dem Schaufenster in Leipzig; das schüchtern zurückschauende Mädchen in der Husemannstraße und die mit Regenschirm dahineilende alte Dame in der Rykestraße in Berlin. Ihr schmuckes, biederes Brautpaar vor sonnenklarer bröckelnder Hauswand von 1956 ersetzt durchaus soziologische Traktate.
Trotz des Zeitsprunges verändern sich Arnolds Schauplätze und Bilder wenig. Das liegt an ihrer einfühlsamen, melancholischen Darbietung des Gewöhnlichen, das Mode und Aktualitäten herausfiltert. Seit den Achtzigerjahren tritt mehr und mehr die Natur an Stelle des urbanen Raums. In Ihlow und Biesow hat Arnold noch strukturelle Bezüge zwischen Gebautem und Gewachsenem herausgestellt, in der Leuenburger Heide und in der Märkischen Schweiz ergeben Gräser, vom Raureif belegte Blätter oder im Wasser gespiegelte Baumstämme fast schon abstrakte Muster. Auch hier überwiegt das Gefühl von Stille und Intensität. MICHAEL NUNGESSER
Das Verborgene Museum, Schlüterstraße 70, bis 2. Juli; Galerie argus fotokunst, Marienstraße 9, bis 9. Juli; Katalogbuch 38 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen