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Unterwegs und live dabei

Keine Ahnung, wie die EM so ist: Vom aufreibenden Zweiterhand-Leben als Reporter bei der Europameisterschaft. Viel Fußball gucken ist nicht, und zu essen gibt es nur Nescafépulver

aus EM-LandenBERND MÜLLENDER

Längst haben Freunde begonnen zu fragen: „Na, wie findest du denn die EM bislang, so generell und überhaupt?“ Eine nahe liegende, eine sehr berechtigte, aber sehr kühne Frage. „Wie ich die EM finde: Keine Ahnung.“

Dann staunen sie. „Ja, aber. Du bist doch immer dabei. Live vor Ort. Beste Plätze.“

Dann muss ich erklären.

Etwa, dass ich zwar fast jeden Tag ein Spiel gesehen habe. Dass die meisten dieser Begegnungen – mindestens zeitweise – richtig tollen giftigen, offensiven Fußball gebracht haben. Viel schönes Leid, Triumphe, Ekstase und wüstes Gerase der Fans. Aber insgesamt? Die Anwesenheit vor Ort bedeutet zwangsläufig, die vielen anderen Spiele nicht zu sehen. TV-Restgucken klappt nur zufällig und häppchenweise. Wie dann urteilen, generell und überhaupt?

Ein Live-Spiel bedeutet mehr als 90 Minuten Arbeit. Beispiel: Abendspiel 20 Uhr 45. Zwei Stunden Anreise muss man meist einplanen, zwei Stunden vorher muss man die Karten abholen. Also zur Sicherheit 16 Uhr Abfahrt. Vor Ort, jedesmal woanders, ist es dann immer anders. Mal gibt es Parkplätze, mal nicht, mal ist die zugesicherte Parkkarte kurzfristig ausgeblieben; die Uefa bittet um Verständnis. Geht es per Bahn, ist am Bahnhof erst mal Schluss. Shuttleservice ja, für Presseleute aber nicht vorgesehen. Bei den Fans der einen Mannschaft: kein Buszugang. Bei den anderen auch nicht. Sicherheitsgründe. Im Stadion schicken sie einen dann auch mal, anders als woanders, zum Kartenempfang ins Accreditation Center, wo einem kopfschüttelnd eine neue Route empfohlen wird, Innenstadt diagonal zum Ticket Center. War da ein 18-Uhr-Spiel? Manchmal bleibt Muße für ein Viertelstündchen in einer Kneipe am Wegesrand oder ohne Ton im völlig überfüllten Presseraum am Stadion. Echt, haben die Spanier gewonnen? Gegen wen haben die noch mal gespielt?

Bei 18-Uhr-Spielen ist das Zweitmatch des Tages noch abseitiger. Denn nach dem Spiel ist bei der Hauptarbeit: Pressekonferenz mit den Trainern, der Versuch, Spieler oder Offizielle zu erwischen im Geschubse der „Mixed Zones“. Jugoslawen oder Schweden bringen Landsleute zum Schmunzeln. Die Uefa-Übersetzerin macht einen Halbsatz aus der ganzen Sequenz. „What did he say ...“ – „Pssst“.

Nach Spätspielen ist selten Bettzeit vor 2 Uhr. Noch weiß ich, wie die Frau neben mir heißt. Die mich immer noch nicht siezt. Um 7 ruft der Wecker, ab 8 wird in die Tasten gehauen. Dabei Zeitungen überfliegen, im Internet verloren gehen, über Bild lachen, die Heimatblätter nach Anekdoten durchforsten, die großen Blätter mit ihren vier oder sechs EM-Reportern beneiden. Und fix fertig werden. Mittags wird Erich Ribbeck im deutschen Lager in Vaals um das Neueste vom Tage herumreden. Nix wie hin, denn das will auch noch niederglossiert werden.

Einer ruft an, 25-jähriges Klassentreffen nächsten Samstag. Lächerliche Frage. Ach, wie ich Holland fand gestern? Leicht, beim Stau hinter der neuen alten Grenze, haha. Nein, ach ja, Holland. Die spielen ja auch mit. Nee, noch keinen Zipfel Oranje gesehen: Einmal hieß das Ersatzprogramm D-Zug Oostende-Express, das andere mal notdürftige Stabilisierung des Privatlebens. Da geht man nicht in eine Kneipe mit Live-Übertragung. Noch sind die Dinge im Lot: die Liebste bleibt beim Du, DFB-Sprecher Niersbach beim Sie.

Nennenswerte Pannen, also belgischer Alltag, blieben bislang aus. So wie bei Kollegen mit ihren verschwundenen Karten, defekten Telefonen, falschen Anschlüssen und den Steckern nach Landesart. Oder sie haben Tickets für Plätze, die es stadionweit nicht gibt. Oder sie haben Spielsperre, weil beim letzten Mal keine Karte vorlag und der Uefa-Computer den armen Bösewicht deshalb wegen strafbaren Nichterscheinens (die größte Presse-Sünde) erfasst hatte.

Ihr glücklichen EM-Frager! Die ihr über das gewohnt grauselige Infantilen-TV schimpfen dürft. Ertragt eure Hart-, Herr-, und Beckmänner. Ihr habt deren Analysegelaber zum Auslachen frei Haus und zum Bier die Zeitlupen – nach denen wir uns auf der Pressetribüne mit gemeinschaftlich hundertfachem Schwenk die Hälse ausrecken, um undeutlich weit hinten etwas auf einem umlagerten Monitor nicht zu erkennen.

Ihr könnt nicht am hanebüchensten Statistik-Müll und Sponsoren-Hochglanz ersticken. Oder in den Pressezelt-Krematorien, gegen die die pralle Sonne wie eine kühle Dusche wirkt. Werdet nicht vor und nach jedem Spiel ohrenzerreibend und marathonhaft ausdauernd von der „Campeone“-Hymne bedröhnt. Könnt euch auch einen Kaffee machen, wann ihr wollt – während wir uns durch konsequent defekte Kaffeeautomaten in den Stadien ans Kaffee-Essen aus Nescafé-Tütchen gewöhnt haben. Als einzige Nahrung manchmal, denn immer, wenn man essen will, sind die Vorräte gerade ausgegangen.

Wie ich die EM finde? So sportlich? Am Ende werde ich Leute finden, die es mir erzählen. Wo geht es eigentlich heute hin, nach Charleheim oder Rotterhoven oder Lütsel?

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