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Gut getarnte Justizkritik

Die ARD-Reihe „Die großen Kriminalfälle“ bietet engagierte Zeitstudien statt Grusel-TV. Heute stirbt Bandenchef Werner Gladow stellvertrend für Amerika unter dem Ostberliner Fallbeil (21.45 Uhr)

von CHRISTIAN RATH

Gern wäre er der „Al Capone“ der Berliner Nachkriegszeit geworden. Doch dann fasste ihn die Ostberliner Polizei und Werner Gladow starb – kaum zwanzigjährig – unter der Guillotine. In der ARD-Reihe „die großen Kriminalfälle“ sind heute Abend Aufstieg und Fall des intelligenten Abenteurers zu sehen.

Sechs authentische Fälle umfasst das Projekt insgesamt – vom Mord an Rosemarie Nitribitt, der 1957 erwürgten Frankfurter Edelhure, bis zum im Sommer 1990 erschlagenen Volksschauspieler Walter Sedlmayer. „Menschliche Abgründe, die Marotten der Komissare, die teuflischen Tricks der Täter“ versprach ARD-Chefredakteuer Hartmann von der Tann etwas boulevardesk zu Beginn der Reihe. Doch statt Grusel-TV nach Privatsendermanier bringt das Erste spannende zeitgeschichtliche Dokumentationen und zeigt, dass auch „gewöhnliche“ Kriminalfälle alles andere als unpolitisch sind.

Vom West-Krimi lernen

So profitierte etwa die seit 1948 aktive Gladow-Bande lange Zeit von der Aufspaltung der Berliner Polizei in einen Ost- und einen Westableger in der Vier-Sektoren-Stadt. Und als die Ostberliner Justiz die Bande im Herbst 1949 schließlich dingfest machen konnte, da wollte sie vor allem den schädlichen amerikanischen Einfluss auf die Jugend offen legen. Denn tatsächlich goutierte Gladow, der beim Aufbau seiner Bande gerade mal 17 Jahre alt war, in Westkinos immer wieder US-Krimis – „um zu lernen und Fehler zu vermeiden“.

Gladow wollte ein Gangsterboss werden, wie Al Capone in Chicago. Erste Schlagzeilen – im Westteil Berlins zunächst politisch und positiv kommentiert – machte die Bande durch die Entwaffnungen von Volkspolizisten an der Sektorengrenze. Doch Gladow ging es nicht um Politik: Schnell und brutal waren die Überfälle der elegant gekleideten Gangster, bald gab es auch Tote. Am Ende verhängte die Justiz eine besonders harte Strafe gegen den Heranwachsenden – die Enthauptung. Der im Osten Deutschlands neu entstehende Staat wollte Stärke zeigen und exekutierte Gladow quasi stellvertretend für die amerikanische Unkultur. Angesichts des kaum zurückliegenden Krieges und der eben beendeten Berlin-Blockade ein ebenso deutliches wie überzogenes Signal des noch jungen Kalten Krieges.

Bei anderen Folgen der „großen Kriminalfälle“ kamen Polizei und Justiz noch viel schlechter weg. Gleich die erste Ausstrahlung, „Lebenslang für Vera Brühne“, geriet der ARD zu einem leidenschaftlichen Plädoyer gegen dieses vermeintliche „Fehlurteil“. Anfang der 60er-Jahre wurde die attraktive 50-jährige Frau verurteilt, weil sie aus Habgier einen Arzt und seine Lebensgefährtin getötet haben soll. Filmautor Michael Gramberg hielt dagegen einen geheimdienstlichen Hintergrund der Tat für näher liegend, da der Arzt auch in Waffengeschäfte des BND verwickelt war. Wie bei einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens versuchte Grambergs Beitrag die Beweisführung des Urteils Punkt für Punkt zu widerlegen. Selbst eine „politische Einflussnahme“ auf das Gerichtsverfahren – unter anderem durch den damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß – hielt Gramberg für wahrscheinlich. Und von Vertuschungsvorwürfen geprägt war auch die dritte Folge der Reihe: Nach dem Tod der Frankfurter Prostituierten Rosemarie Nitribitt verfolgte die Polizei deutliche Spuren in deutsche Fabrikantenkreise nur äußerst halbherzig, obwohl zu Nitribitts regelmäßigen Besuchern etwa auch Harald von Bohlen und Halbach gehörte. Doch die Kriminalbeamten waren nicht zuletzt eher damit beschäftigt, den Spross der Krupp-Familie zu schützen, statt in seinem Umfeld zu ermitteln – der Mord ist bis heute noch nicht aufgeklärt.

Justizfehler aufgerollt

Selbst im Fall des Kindermörders Jürgen Bartsch, der zwischen 1962 und 1965 vier Jungen missbrauchte, tötete und zerstückelte, fehlte die Justizkritik nicht. Filmautor Thomas Fischer fand, dass der junge Mann bessere Gutachter benötigt hätte und nur nach Jugendstrafrecht hätte verurteilt werden dürfen. Später korrigierte die Justiz den Fehler immerhin selbst und rollte das Verfahren noch einmal auf.

Im Film stehen aber nicht die schrecklichen Taten im Vordergrund, vielmehr wird Jürgen Bartsch als Mensch mit einem tragischen Schicksal gezeigt, werden die Umstände angeklagt, die Bartsch zur „Bestie“ werden ließen: die lieblosen und überforderten Adoptiveltern, ein grausamer Pater im katholischen Internat. Bartsch stirbt 1976 nach einem verpfuschten Kastrationsversuch.

Quasi nebenbei werfen „Die großen Kriminalfälle“ auch Schlaglichter auf die jüngere deutsche Vergangenheit. Deutlich wird etwa, wie sich die Moral der jeweiligen Zeit nicht nur in den Verbrechen, sondern auch im Verhalten von Polizei und Justiz oder in der Medienberichterstattung niederschlug: die Haltung zu Prostitution und Homosexualität, die Vorstellung bestimmter Frauenrollen, all das findet sich wieder.

Dass den Beiträgen dieser Reihe ein relativ einheitlicher Zugang zu den jeweiligen Kriminalfällen gelungen ist, war nicht selbstverständlich. Immerhin war für jeden Beitrag ein anderer Autor und sogar eine andere ARD-Sendeanstalt verantwortlich. Spürbar sind die Unterschiede aber eher in den Details. Nicht jeder Autor verfuhr so subjektiv-parteilich wie Brühne-„Verteidiger“ Michael Gramberg, nicht immer waren so viele Archiv-Bilder vorhanden wie in den Fällen der jüngeren Kriminalgeschichte. Der große Zeitabstand zu den meisten Fällen stellt dabei auch das kriminalistische Engagement mancher Filmemacher etwas in Frage: Können dreißig oder vierzig Jahre nach einer Tat wirklich noch neue Details rekonstruiert werden, wie es Helga Dierichs in der Nitribitt-Folge versuchte? Der Zuschauer kann es nicht beurteilen, zu schemenhaft ist heute sein Wissen, seine Erinnerung an die einst breit diskutierten Vorgänge.

Letzter Teil: „Walter Sedlmayr – Tod eines Volksschauspielers“,(Do., 29. 6., 21.45 Uhr, ARD)

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