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Albtraum in Weiß

Dies ist die Geschichte eines Beines. Es brach, wurde operiert – und will nicht mehr laufen

von ANNETT MÜLLER

Schlafwagenabteil. Einer erwartet vom anderen noch so etwas wie eine Gute-Nacht-Geschichte. Ich sage, deine Freundin, Russin, lebt bei dir. Wie kommt sie nach Deutschland? Er erzählt, dann sagt er: „Frag sie nicht danach, sie hasst diese Frage inzwischen.“ Ich ziehe die Schuhe aus und schlüpfe aus meiner Orthese. Was trägst du denn da, fragt er. Ich schweige. Er wird wissen, warum. Dies ist die Geschichte eines Beines, dass brach und heilte. Ein Fall von knapp 100 pro Jahr in der Bundesrepublik, wenn die Geschichte so endet wie meine.

Es wird der letzte Eingriff sein, eine Routine-Operation, sagen die Ärzte. Die Metallplatte, die den Bruch fixierte, soll entfernt werden. Ein Eingriff so üblich wie Fäden ziehen. Drei Tage Krankenhaus in Leipzig. Und draußen liegt Schnee mitten im März.

Herr Doktor, ich habe Schmerzen.

Frau Müller, das ist der übliche Wundschmerz.

Herr Doktor, er lässt nicht nach.

Patienten erhalten vor Operationen so genannte Aufklärungsbögen. Darin steht, „melden Sie Schmerzen unverzüglich dem behandelnden Arzt. Befürchten Sie nicht, deshalb als wehleidig angesehen zu werden.“

Eine Freundin fragt eine Schwester, was los sei mit mir. „Die soll sich mal nicht so haben“, antwortet diese. Verdammt noch mal, mein Bein! Der Satz quillt aus meinem Kopf, so oft denke ich ihn. Ein Tag. Der zweite Tag. Nachmittags wird das Bein erneut geöffnet. Dabei entleeren sich „graue Eitermengen“, es riecht „faulig“, heißt es später im Operationsbericht. Die Ärzte diagnostizieren Gasbrand. Ein Fall von 100 pro Jahr. Sie verlegen mich auf die Intensivstation eines anderen Krankenhauses.

Im Lexikon der Medizin steht, Gasbrand ist eine schwere Wundinfektion, deren Erreger das Gewebe abtötet. Krankheitsbild: Plötzlich einsetzender starker Wundschmerz. Relativ rascher Verfall des Kranken. Der Kranke ist bis zum Schluss zumeist bei vollem Bewusstsein.

Notfallaufnahme. Ein Ärzteteam erwartet mich. Ist das denn nötig? Frau Müller, wir können Ihnen nicht versprechen, dass sie nach dieser Operation, noch zwei Beine besitzen. Das ist ein Scherz! Schweigen. Gut, dann verraten Sie mir, wie man auf einem Bein tanzen soll? Schweigen. Viel später erzählen mir die Ärzte, der Tod kommt bei dieser Infektion wie auf Bestellung. Wir haben uns um Stunden verpasst.

Nachts kriecht ein Albtraum unter meine Bettdecke. Er riecht weiß, nach den Nachthemden, den Wundsalben, den Kitteln der Ärzte und Schwestern. Und wie geht’s uns denn heute? Hatten wir schon Stuhlgang? Schwester, ich will nicht wissen, ob Sie welchen hatten, und ich will, dass Sie nicht wissen, ob ich welchen hatte. Sieben Wochen Krankenhaus. Bei der Entlassung vergnügt sich längst der Mai in den Gassen.

Haben Sie nach dem Aufwachen schon einmal unter der Bettdecke nachgesehen, ob sie beide Beine haben? Und hatten Sie schon einmal Glück im Unglück? Waren Sie traurig und mussten doch froh sein?

Ich habe zwei Beine. Das eine läuft, bei dem anderen geht’s so. Seit der Infektion fehlt ihm der Schienbeinmuskel, der einst den Fuß bewegte. Er wird starr bleiben, wie eingefroren.

Die Zeit heilt alle Wunden. Und wer heilt die Zeit, wenn sie die Wunde ist? Eine Routine-Operation mit Nebenwirkungen. Ich könnte sagen, es hätte schlimmer kommen können. Oder soll ich mich fragen, wo der Fehler lag für den Fehler, den ich nun für immer habe? Keine Erklärung des Arztes, der mich einst operierte. Erst recht keine Entschuldigung. Mir fehlt ein Satz in meinem Leben.

Gregor Bornes von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen wirft Ärzten vor, zu selten zu ihren Fehlern zu stehen. Bornes berät in Köln Patienten ehrenamtlich und hat die Erfahrung gemacht, dass Ärzte in der Regel schweigen, weil sie befürchten, „der Patient beauftragt bei jedem Fusselchen einen Rechtsanwalt“. Doch gerade weil so getan würde, als sei nichts passiert, gingen die meisten Patienten vor Gericht. Das sieht auch der Berliner Rechtsanwalt Jörg Paßmann so. Er hat sich auf Arzthaftungsrecht spezialisiert und sagt, viele Patienten beklagten, dass der Arzt „keinen Ton gesagt hätte“. Die Frustration darüber entlade sich im Rechtsweg. Der ist nicht einfach, da vor Gericht die Beweislast für Behandlungsfehler in der Regel beim Patienten liegt. Da ihm zumeist das Fachwissen fehle, sei er damit in der eindeutig „schwächeren Position“, sagt Paßmann.

Es gibt Fragen, die laufen mir seit meiner Behandlung hinterher. Soll ich vor Gericht gehen? Soll ich nicht? Was, wenn dort erklärt wird, dass kein Fehler zu finden ist? Es wäre eine Ohrfeige mehr für meine Seele. Mein Fall erstickt in unzähligen Akten, seit vier Jahren. Ich habe schon verloren, Lebenszeit nämlich.

Ehe ein Patient vor Gericht zieht, kann er sich an die Schlichtungsstelle einer Landesärztekammer wenden. Dort begutachten Mediziner anhand des Operationsberichts, wie die Behandlung verlief und ob ein Fehler vorliegt. Dass damit der Patient kostenlos ein Urteil von Sachverständigen erhält, sieht Rechtsanwalt Jörg Paßmann als Vorteil. Nachteile gibt es mehrere. Die reichen von manipulierten Operationsberichten der Ärzte, die behandelten, bis zur Zeit, auf die der Patient auf solch ein Gutachten wartet. Bis zu anderthalb Jahre könne es dauern, ehe es erstellt wird.

Meine Geschichte lungert auf den Schreibtischen der Versicherungen. Morgens kommt der Sachbearbeiter, rückt seine Krawatte zurecht, isst sein Pausenbrot, liest meine Geschichte und schreibt einen Zwischenbericht. Aktenzeichen soundso. „Sehr geehrte Frau Müller. Voraussetzung für die Übersendung der Patientenakte ist, dass von Ihrer Seite verbindlich die Übernahme der Kopiekosten erklärt wird.“ Punkt. Schluss für heute. So vergeht die Zeit. Und macht mürbe.

Vor Monaten erklärte die Versicherung des Krankenhauses, sie sehe keine Schuld in meinem Fall. Wo keine Schuld ist, ist auch kein Fehler. Ein medizinisches Gutachten der Landesärztekammer kam zu dem Schluss, es liege „ein schicksalshafter Geschehensablauf“ vor. Ein Haftungsanspruch könne nicht begründet werden. Eine Infektion gehört zum Krankheitsrisiko. Nun müsste ich beweisen, ob die Ärzte, das Ausmaß der Infektion begünstigten. Ein fast aussichtsloses Unterfangen. Wer würde hier schon aussagen?

Patientenstellen-Leiter Gregor Bornes misstraut den Gutachten der Ärztekammern, weil die von Kollegen stammten. Dabei käme es zu sehr unterschiedlichen Urteilen. So bestätige die Kammer in Nordrhein zweimal häufiger Behandlungsfehler als die Kammer in Bayern. „Das liegt aber sicher nicht daran, dass die Bayern weniger Fehler machen“, sagt Bornes. Die Auswahl der Gutachter sollte nicht mehr allein von Ärzten, sondern mit Krankenkassen und Patientenvertretern entschieden werden, fordert Bornes. Was wollen Patientenvertreter in einer Gutachterkommission, fragt sich hingegen die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Ursula Auerswald. Die hätten schließlich nicht das nötige Fachwissen. „Nehmen wir an, eine Brücke stürzt ein. Dann lassen sie auch nicht das Gutachten eines Ingenieurbüros anschließend von einem Autofahrer überprüfen“, sagt die Medizinerin. Davon, dass „Laien die Fälle beurteilen sollen“, sei gar nicht die Rede, sagt Bornes.

Patientenorganisationen sprechen von jährlich rund 100.000 Kunstfehlern. Die Ärzteschaft geht von weitaus weniger aus. Nicht einmal jeder dritte Betroffene fordert Schadenersatz. Eine Klage bedeutet ein immenses Kostenrisiko.

Dies ist die Geschichte eines Beines. Meine Tanzschuhe stehen seit Jahren im Schrank. Sie warten darauf, aufgefordert zu werden. Museumsstücke meiner Vergangenheit. Die Gegenwart ist eine Schuhnummer zu groß, trägt eine Orthese. Nur sie hält den starren Fuß am Laufen. Das ist, was er besonders ungern macht. Auch mit Einlage. Sie ist kniehoch, eine Art Stiefel und fleischfarben. Sie fühlt sich an, als ob ich mit Ende Zwanzig schon die Dritten tragen würde. Vielleicht ist mein Körper einfach älter als ich.

Hin und wieder hab ich diesen Wunsch, mein Bein zu verleihen. Andere annoncieren bei Einsamkeit. Biete 90 Zentimeter langes Bein. Wollen Sie heute abend mit ihm ausgehen? Ich passe derweil auf Ihres auf.

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