Schreiendes Meeresgrün

Jahrelang haben Gen-Forscher Experimente an Gefängnisinsassen vorgenommen

„Kommen Sie doch rein.“ Das einfache Zimmer ist spartanisch eingerichtet, aber sauber: eine schmale Matratze, zwei halbleere Holzregale, ein paar Umzugskisten dienen als Kleiderschrank. Einziger Wandschmuck ist die Schwarzweißfotografie eines Indianerhäuptlings, und in der Mitte des Raumes steht ein großer Fernseher. „Beinahe meine letzte Verbindung zur Außenwelt, sobald es dunkel wird“, sagt Heinz-Rudolf Merten (Name von der Redaktion geändert). Merten (46) lebt in diesem Zimmer. Er wirkt müde, abgespannt. Sein Haar ist schütter, nicht grau, aber dennoch farblos, wie auch seine Gesichtshaut. Merten ist ein Opfer. Ein Opfer der Justiz, der Wissenschaft und der Gesellschaft. Seit drei Monaten erst lebt er wieder in dieser „Gesellschaft“. Denn Merten war für fünf Jahre im Gefängnis Moabit inhaftiert – unschuldig. Erst im Wiederaufnahmeverfahren Anfang dieses Jahres vor dem OLG Berlin wurde seine Unschuld bestätigt. „Ich hatte mit dem Banküberfall nichts zu tun. Aber keiner hat mir geglaubt, nicht mal meine eigene Frau.“ Es fällt Heinz-Rudolf Merten sichtlich schwer, über die bedrückenden Erfahrungen der vergangenen Jahre zu sprechen, nur stockend kommt die Schilderung der Ereignisse über seine Lippen: die falschen Beschuldigungen, die Scheidung, die Haftzeit – „lebenslänglich“.

Und dann waren da diese Arztbesuche. Genetiker, wie Merten heute weiß. „‚Lebenslänglich‘! Ich war ja unschuldig. Da wurde mir ein Formular hingehalten, das ich unterschreiben sollte, damit es nicht so schwer für mich würde. Alle Lebenslänglichen würden das tun, sagte mir der Wärter.“ Merten schüttelt den Kopf, als ob er es immer noch nicht fassen könne. „Das habe ich dann unterschrieben, ohne es genau zu lesen.“ Durch seine Unterschrift war Merten von der anstrengenden Wäschereiarbeit befreit und genoss eine besondere medizinische Betreuung. Ein Teufelspakt. „Einmal in der Woche kamen sie in meine Zelle. Ärzte, Professoren von der Universität. Sie gaben mir immer eine Spritze. Das seien Vitaminspritzen, sagten sie mir.“ Mertens Blick schweift zu der Schwarzweißfotografie des Indianerhäuptlings. Seine Mundwinkel heben sich wie von Marionettenfäden gezogen. Aber in seinen Augen ist kein Lächeln. Er wirkt ausgebrannt. „Dann merkte ich es plötzlich nachts – der grüne Schimmer.“ Merten stockt. Sein Blick ist leer.

Jahrelang haben deutsche Gen-Forscher mit Billigung des Bundesjustizministers Häftlinge für wissenschaftliche Experimente benutzt. „Die wissenschaftlichen Experimente dienen der inneren Sicherheit“, heißt es in einem erst jetzt entdeckten Papier der als geheim eingestuften Gen-Forschungsstelle bei der Bundesanwaltschaft (GenFoB). „Das war doch alles harmlos“, erregt sich Professor Hermann Öller von der Freien Universität Berlin. „Quallen-Gene sind völlig ungefährlich für alle Beteiligten.“ Öller war verantwortlich für die „Operation U-Boot“: In den Labors der FU wurden Leucht-Gene von Meeresquallen separiert. „Die Tiere schützen sich durch die Signalwirkung, um es einmal laienhaft auszudrücken“, erläutert Öller eine Spur zu gönnerhaft. „Und unserem Team ist es gelungen, den Phibron-Gehalt des Gens anzureichern, um ihn dann an die Versuchspersonen abzugeben.“ Das scheußliche Resultat: Die Gefängnisinsassen begannen grünlich zu leuchten.

Mit den politischen und sozialen Konsequenzen habe er als Gen-Forscher nichts zu tun, wehrt Öller jeden Angriff ab. „Das war Grundlagenforschung im Auftrag einer höheren Behörde.“ Nicht die Spur eines Zweifels huscht über sein verhärmtes Gesicht. Dabei sollte er gewarnt sein. Denn so harmlos wie behauptet sind die Versuche offenbar nicht gewesen. Schon ist eine damalige Mitarbeiterin am Institut erkrankt: Ihre Hände und Arme leuchten nachts bereits genauso wie Heinz-Rudolf Mertens Körper. „Glauben Sie mir, ich würde gern mal ein Bier trinken gehen und mich mit jemandem unterhalten, aber so geht das doch nicht.“ Merten lehnt an der Wand, lässt resigniert seine Hand vor dem Körper hinabfallen, um dann den Lichtschalter zu betätigen. Und tatsächlich: Merten leuchtet im Dunkeln – meeresgrün. Eine angenehme, aber schreiende Farbe, die nach wenigen Sekunden ins Auge sticht. Wir müssen uns kurz abwenden, was Merten ein wissendes Lächeln ins Gesicht treibt, als er es bemerkt. „Eine Brieffreundin ist eigentlich alles, was ich mir wünsche“, verabschiedet er uns, und wir versprechen ihm, in Kontakt zu bleiben. „Das nächste Mal bringen Sie einfach Sonnenbrillen mit“, lacht er zum ersten Mal an diesem Abend, als er die Tür schließt. MICHAEL RINGEL /

CORINNA STEGEMANN