: Die Stadt der Anarchie
Mit zweieinhalb Millionen Menschen ist der Großraum Tel Aviv eine eher kleine Metropole. Aber eine besondere: Denn Stadtplanung war hier Bedarfsplanung
aus Tel Aviv BARBARA JUNGE
Jaffa, das klingt nach fruchtigen, süßen Orangen. Nach einer Oase. Das ist das alte Jaffa auch. Denn nördlich von Jaffa, der alten Fischersiedlung, beginnt die Wüste. Eine unübersichtliche Wüste aus Beton. Hinter den Hotelhochhäusern und Bettenburgen, die an den Mittelmeerstrand herangerückt sind, brummen in wildem Wettbewerb Taxis, Motorräder und Lastwagen auf den Straßen. Bauruinen, Billigbauten und ausgebrannte Räume runden das Chaos ab. So präsentiert sich Tel Aviv, die israelische Metropole am Meer. Nur eine Promenade, unterbrochen von einigen Grünstreifen, versucht zu retten, was nicht zu retten ist.
Tel Aviv steht kurz vor dem Infarkt. Keine U-Bahn, keine Straßenbahn entlastet den Verkehr und das Klima. Kaum eine Grünfläche sorgt für frische Luft, von Erholungsflächen ganz zu schweigen. Die Hauptstadt Israels – selbst kommt sie auf gerade mal 500.000 EinwohnerInnen – ist zum täglichen Ziel von einer weiteren Million Pendlern geworden. 2,5 Millionen leben im Großraum, fast die Hälfte der Bevölkerung Israels. Verglichen mit den Metropolen dieser Welt sind das fast niedliche Zahlen, doch Tel Aviv wächst in rasantem Tempo. Und jetzt schon ist Tel Aviv eine ganz besondere Stadt, eine Stadt ohne Plan.
Die ersten Grundstückskäufe nördlich von Jaffa begannen 1909. Um 1920 erst entstand eine Stadt, zunächst ein Anziehungspunkt heimatsuchender Zionisten, später eine Stadt der Flüchtlinge vor dem Holocaust. Und noch heute ist Tel Aviv der erste Anlaufpunkt für Juden aus aller Welt. Russisch ist inzwischen die Umgangssprache in einer Vielzahl von Läden, Restaurants und Jugendtreffs. Und seit gut 80 Jahren wächst Tel Aviv immer dort, wo sich die Neuankömmlinge ansiedeln. Da spielte es keine Rolle, ob genügend Parks für die Erholung zur Verfügung standen.
Hinter der Strandpromenade beginnt ein heilloses Gewirr, dem die Geschichte dieses Wachstums anzusehen ist. Viertel gepflegter Wohnhäuser stehen in hartem Kontrast zu verfallenden Bungalows aus einer anderen Epoche. Auch das Zentrum der Stadt spiegelt in seiner Architektur die wechselnden Zeiten wider. Plattenbauten, die wie das Rathaus an realsozialistische Repräsentation erinnern, scheinen keinerlei Verbindung zu den Glastürmen der Versicherungsbranche zu haben, die neuerdings die Silhouette prägen. Und während der Norden – nahe Herzliya und dem aufstrebenden High-Tech-Zentrum, das hier „Silicon Wadi“ genannt wird – vor allem für die Reichen attraktiv geworden ist, versammeln sich im Süden der Region die, die übrig bleiben, die Armen, darunter viele Angehörige der arabischen Minderheit.
„Um unsere Städte zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie sie entstanden sind“, erklärt Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai (siehe Interview). „Sie sind unter Druck entstanden. Und wenn man unter Druck baut, macht man keine Pläne.“
Erst jetzt blicken die Veranwortlichen mit gelindem Erschrecken auf ihre Stadt. Sie sehen den drohenden Kollaps und beginnen, aktiv zu werden. „Nachhaltigkeit“ ist deshalb auch in Tel Aviv in beliebtes Stichwort.
„Nachhaltigkeit“ heißt unter diesen Bedingungen jedoch etwas ganz anderes als in den Städten Europas, heißt, für die Stadt erst einmal etwas wie eine Vision zu entwickeln, die das ungezügelte Wachstum bremst und die Entwicklung zu steuern beginnt. In Zusammenarbeit mit den Münchener Architekten Hermann Grub und Petra Lejeune entwickelt die Stadt in diesen Tagen einen Masterplan für Tel Aviv/Jaffa: „Tel Aviv 21“.
„Wir arbeiten gemeinsam an einer Vision für die gesamte Region“, erläutert Architekt Grub. „Dabei wollen wir die Gesetzmäßigkeiten der nachhaltigen Entwicklung einarbeiten und auf die Region übertragen. Tel Aviv muss für die nächsten Generationen erhalten bleiben. Dafür bedarf es aber mehr als nur einzelner Grünzüge oder Korrekturen.“ Der Masterplan Tel Aviv soll ein komplexes Ineinandergreifen von Bauplanung, Verkehrsplanung, Grünflächenplanung, die Organisation der gesamten Infrastruktur inklusive ökologischer Struktur garantieren, so betonen Grub und Huldai.
Ein erster Schritt ist bereits in konkreter Vorbereitung. Möglicherweise mit finanzieller und logistischer Unterstützung aus Berlin planen die Münchener Experten und die Verantwortlichen in Tel Aviv, eine der verarmten Gegenden im Süden der Stadt umzugestalten. Dieser erste Baustein soll, so Grub, „alle Elemente von Natur, Kultur und Lebensfreude der Menschen in Israel enthalten“. Ein Park soll dies leisten. Über die genaue Gestaltung schweigen sich die Beteiligten allerdings aus.
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