: Die Jungfrau von Potsdam
Eine Kurzgeschichte von Wladimir Kaminer
Mit einem Linienbus Odessa–Potsdam kam Lisa in diesem Sommer nach Deutschland. Sie wollte ihren Vater besuchen und sich hier ein wenig Geld verdienen. „Liebe Lisa“, stand in dem Brief ihres Vaters, „ich hatte Glück. Endlich bin ich nicht mehr arbeitslos. Mehr noch – ich habe auch für dich einen Job besorgt. Du kannst als Jungfrau bei uns auf dem Friedhof 10 Mark die Stunde verdienen! Das ist kein leicht verdientes Geld, aber ich werde dir dabei helfen.“
Vor zwei Jahren war Lisas Vater von Odessa ausgewandert – nach Potsdam. Er kam allein, obwohl er durchaus seine Familie hätte mitbringen können. Dafür hätte er bloß Lisas Mutter noch einmal heiraten müssen. Sie selbst sagte ihm sogar: „Heirate mich doch noch einmal, dann kann unsere Tochter auch nach Deutschland.“
Er wollte aber nicht, es war eine Art Rache dafür, dass Lisas Mutter ihn vor sieben Jahren verlassen hatte. Damals musste er jede zweite Nacht mit einem ärztlichen Notdienstwagen durch die Stadt fahren, um Armen und Kranken zu helfen. Er war zwar nur ein Fahrer, konnte aber unter Umständen den Patienten auch eine Injektion verpassen oder einen Verband anlegen. Und Lisas Mutter ging derweil mit einem Schwimmlehrer aus! Er rettete Nacht für Nacht Menschenleben, und sie fuhr in der Zeit ans Meer – und tummelte sich im warmen Wasser. Nackt!
Diese Geschichte war zwar schon lange her, für den Schwimmlehrer war Lisas Mutter nur ein kleiner Zwischenstopp auf seiner großen Seefahrt – er ist dann bald weitergeschwommen. Trotzdem wollte Lisas Vater seine Exfrau nicht noch einmal heiraten und fuhr allein nach Potsdam. Ein Jahr lang quälte er sich mit der Arbeitssuche. Sein Führerschein wurde in Deutschland anerkannt, doch mit 46 Jahren und ohne Sprachkenntnisse wollte ihn niemand einstellen. Er aber gab die Hoffnung nie auf und war bereit, jeden Job zu machen.
Eines Tages lernte er einen Russen kennen, der gerade ein Bestattungsunternehmen in Potsdam eröffnet hatte – und ihm einen Job anbot. „Ich will hauptsächlich unsere Landsleute hier begraben. Ein russisches Bestattungsunternehmen ist ein Geschäft mit großer Zukunft. Du weißt, wie abergläubisch die Russen sind. Kein einheimischer Anbieter kann ihre Begräbniswünsche befriedigen. Und bei mir werden sie richtig wie zu Hause unter die Erde gebracht. Wenn du willst, kannst du als Angehöriger bei mir einsteigen“, bot ihm der Mann an. „Als wessen Angehöriger?“, fragte Lisas Vater verständnislos. „Als aller Angehöriger“, erklärte ihm der Bestattungsunternehmer.
„Die Russen wollen immer, dass der Verstorbene von möglichst vielen Menschen auf seiner letzten Reise begleitet wird, die meisten haben aber so gut wie gar keine Verwandtschaft hier. Deswegen muss man das für sie organisieren. Außerdem bieten wir einen besonderen Service an: Jeder Verstorbene bekommt ein Handy von der Agentur gratis, damit er anrufen kann, falls er nur scheintot war. Auch die Verwandten können ihn unten anrufen, wenn sie am neunten und am vierzigsten Tag seiner gedenken.“
„Und, haben Sie schon viele Anrufe von unten in der letzten Zeit bekommen?“, fragte Lisas Vater misstrauisch.
„Um Gottes willen! Dann wäre ich vor Angst bestimmt selbst gestorben“, antwortete der Leichenbestatter. „Zur Sicherheit entferne ich immer eigenhändig die Batterien, bevor ich die Geräte in den Sarg lege“, fügte er nach einer Pause hinzu. – „Was ist? Nimmst du den Job oder nicht? Wunderbar! Jetzt brauchen wir nur noch eine Jungfrau!“
„Wozu denn eine Jungfrau?“, wunderte sich wieder Lisas Vater. „Woher kommst du eigentlich, Mensch? Das ist doch ein typisch russischer Aberglaube – eine Jungfrau muss die erste Schaufel Erde aufs Grab werfen.“
„Was bringt das?“, fragte Lisas Vater. „Nichts bringt das. Aber die Kunden sind dann glücklich und zufrieden“, erklärte der Bestatter und guckte Lisas Vater wie einen Idioten an.
Schon seit Monaten hatte er in Potsdam nach einer für den Job passenden Jungfrau gesucht – vergeblich. Die Kandidatinnen sahen entweder zu alt oder zu wenig jungfräulich aus, oder sie sahen zwar gut aus, wollten dann aber eine zu große Gage. So kam Lisa nach Potsdam. Zusammen mit ein paar älteren Frauen und ihrem Vater arbeitete sie zwei Monate lang bei dem Bestattungsunternehmen – als allerlei Angehörige sowie als Jungfrau vom Potsdamer Friedhof. Ihre Kollegen gaben ihr den Spitznamen „Die Jungfrau mit der Schaufel“. So hieß ein berühmtes Denkmal vor dem Pavillon der Landwirtschaftsausstellung in Moskau.
Das Beerdigungsgeschäft lief gut, die wohlhabenden Russen starben im Brandenburger Exil wie die Fliegen. Auf dem Friedhof herrschte jedes Mal eine feierliche Atmosphäre, es waren immer ziemlich viele Menschen anwesend. Der Bestatter schleppte vor dem Ritual einen Haufen schwarzer Kopftücher in einer Bierkiste an, die er an seine Brigade verteilte. Alle mochten Lisa.
Jedes Mal, wenn sie dienstlich auf dem Friedhof aufkreuzte, liefen sie zu ihr: „Ihre Oma ist tot, herzliches Beileid!“, sagten sie, umarmten Lisa und versuchten, ihr an den Hintern zu fassen. „Geben sie dem Mädchen eine Schaufel!“, rief der Bestatter ins Publikum. Am Ende des zweiten Monats war ihre Einladung ausgelaufen. Sie bekam von dem Bestatter 1.000 Mark und ein dickes Buch, „Die schönsten Friedhöfe Potsdams“, als Geschenk noch dazu. Der Linienbus „Potsdam–Odessa“ brachte Lisa wieder nach Hause zurück.
Zitat:„Du kannst als Angehöriger aller Toten bei mir einsteigen“
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