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Mauern für Holland

Mit der EU-Initiative „Eures“ werden Erwerbslose auf Jobs im europäischen Ausland vorbereitet – ob sie wollen oder nicht

aus Leipzig VERENA KERN

Im Arbeitsamt Leipzig herrscht absolutes Rauchverbot. Nur draußen vor der Tür steht ein großer Aschkasten. Daneben ein paar rauchende Arbeitslose. In dem Kasten qualmen Dutzende halb ausgedrückter Kippen in der Mittagshitze. Aber der Boden ist sauber, genauso wie das ganze Amt. Die Kundschaft kennt die Spielregeln, vielleicht zu gut.

Stolz führt Hans-Joachim Haesler Besucher durch das weitläufige Haus in der Leipziger Georg-Schumann-Straße. Viel Glas wurde in den Neubau gesteckt, im Haupttrakt gibt es sogar Oberlicht. Haesler zeigt auf Infotafeln, Broschüren und Prospekte, auf Mitarbeiter, die emsig durch die Flure huschen, auf die Bibliothek, die Computerterminals. Statt der Tristesse muffiger Amtsstuben gibt es im Arbeitsamt Leipzig nur die Tristesse unschöner Statistiken.

„71.000 Beschäftigungslose haben wir im Amtsbereich Leipzig“, sagt Haesler und schaut einen Moment lang sehr ernst. Dann knipst er wieder sein Lächeln an. Optimismus ist Pflicht. Anders wäre es auch nicht auszuhalten. 71.000, das sind 18 Prozent.

Viel lieber spricht Haesler über seine Arbeit. Seit fünf Jahren ist er Eures-Berater (European Employment Services), einer von fünfhundert in ganz Europa, die sich auf Initiative der EU-Kommission um grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung bemühen. „Im vergangenen Jahr hatten wir 2.200 Kontakte zu Arbeitssuchenden“, sagt er. Pro Tag sind das 15 bis 20 Kontakte.“ Kurze Pause. „Überwiegend telefonisch.“

Den Ratsuchenden, wie Haesler sie nennt, kann er Informationen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen in jedem der 17 Länder des Europäischen Wirtschaftsraums liefern, Sprachkurse vermitteln und Weiterbildungsmaßnahmen. Gerade hat er einen Lehrgang organisiert, in dem 13 Leipziger Arbeitslose vier Wochen lang auf einen Maurerjob in Holland vorbereitet werden.

Und Haesler kann auf die Eures-Datenbank mit tausenden freier Stellen zurückgreifen. Arbeit gibt es genug. Vielleicht nicht in Leipzig, aber doch ein paar Autostunden von hier entfernt. Die Aufgabe der Eures-Berater besteht darin, die Arbeit an den Mann und die Frau zu bringen. Das ist schwieriger als man denkt. „Aber“, sagt Haesler, „das Interesse nimmt immer mehr zu.“

„Sanfter Druck“ auf Arbeitslose

Damit er über die Jobbörse, die er an drei Tagen Mitte Mai organisiert hat, Ähnliches berichten kann, hat Haesler nicht nur Plakate geklebt und Anzeigen in der Lokalpresse geschaltet. Er hat für die Veranstaltung mit Arbeitgebern und Jobvermittlern aus Holland, Österreich und Großbritannien auch „etliche hundert“ Einladungen an Arbeitslose verschickt. Die quasi freundliche Geste hat auch einen handfesten Aspekt. Wer der Einladung nicht folgt, dem droht eine so genannte Säumniszeit von zwei Wochen. Bei entschuldigtem Fehlen halbiert sich der Stützeentzug.

Von „sanftem Druck“ spricht Haesler. Die Arbeitslosen, es sind vor allem junge Männer, sprechen von „Zwang“ und „Schikane“. Auf dem Flur und draußen, neben dem Aschkasten, lungern sie missmutig herum und schimpfen: „Die denken wohl, ich hätte nichts Besseres zu tun.“ Und warten auf eine Gelegenheit, sich die Einladung von einer Amtsperson abzeichnen zu lassen. Das genügt zum Beweis ihrer Anwesenheit. „Habt ihr gesehen“, ruft einer und schwenkt den Brief vom Amt. „Den können wir drinnen hinlegen, der eine Typ unterschreibt dann den ganzen Stapel.“ Jetzt kommt Bewegung in die Gruppe.

Es ist wie ein Spiel mit klar verteilten Rollen. Zu Haeslers Part gehört, alle Möglichkeiten, die die Bürokratie bietet, auszuschöpfen. „Natürlich prüfen wir zuerst jeden Fall“, versichert er, „bevor wir das Arbeitslosengeld sperren.“ Zum Part der Kundschaft gehört das Recht zu mosern. „Statt uns hier antanzen zu lassen, sollten die lieber mal was für uns tun“, beschwert sich der 20-jährige Sascha, der vor Gruppenraum 1 steht, in dem die Holländer sitzen und T-Shirts, Kugelschreiber und an die 40 Jobs anbieten. Nichts gefunden auf der Jobbörse? „Da gibt’s nur einen Job für meinen Bereich.“ Und? „Ich will sowieso nicht hier weg.“ Dabei hat Haesler Einladungen nur an die verschickt, die bei der Arbeitslos-Meldung angaben, im gesamten Bundesgebiet arbeiten zu wollen.

So vertrackt ist der Sozialstaat in Deutschland. Und so hilflos. Die Absichten sind gut, aber die Erfolge mehr als bescheiden. Und immer tauchen Missverständnisse auf. Das zeigt sich auch an dem Maurerlehrgang, den das Arbeitsamt organisiert und finanziert und den gerade 13 Arbeitslose im Überbetrieblichen Ausbildungszentrum (ÜAZ) absolvieren. Vier Wochen lang sollen sie hier lernen, mit den speziellen holländischen Bautechniken und Werkzeugen zurecht zu kommen. Ob sie nach dem Lehrgang tatsächlich einen Job bekommen werden, ist trotzdem ungewiss. „Wir können nur Schützenhilfe geben“, sagt Herr Strehle, der Leiter des ÜAZ. Die Arbeitsverträge handeln die Lehrgangsteilnehmer selbst mit den Arbeitgebern aus. „Jeder ist ein freier Bürger“, sagt Strehle. Aber ohne die Trainingsmaßnahme, da ist er sich sicher, „hätten die Arbeitslosen kaum eine Chance“.

Das ÜAZ liegt im Gewerbegebiet Nordost, dem größten Leipzigs. Mehr als ein halbes Dutzend dieser Hoffnungsflächen für den wirtschaftlichen Aufschwung sind seit der Wende rings um die Stadt entstanden. Und immer noch erschließt Leipzig Flächen für Büros und Industrieansiedlungen, von denen niemand weiß, ob sie wirklich gebraucht werden. Kein Mensch ist auf den Straßen zu sehen. Ab und an rumpelt ein Lastwagen vorbei. Nirgendwo Hinweisschilder, Informationstafeln. Wer hier sein Ziel nicht genau genug kennt, kann leicht verloren gehen.

Die Fahrt hinaus ins Gewerbegebiet hat vorbei an Baulücken und ganzen Straßenzügen mit maroden Häusern geführt. Leipzig könnte ein Paradies für Maurer sein. Hans-Jürgen Fischer lacht grimmig. „Was meinen Sie, wer zum Beispiel das hier gebaut hat?“ Fischer, Lehrgangsteilnehmer, 44 Jahre alt, zeigt auf den ÜAZ-Neubau, der vis-à-vis des rot angestrichenen Hauses der Zeugen Jehovas steht. „Natürlich die Wessis.“

„Die sind nach der Wende hierher gekommen“, sagt er, „und haben alles platt gemacht.“ Bringen ihre eigenen Leute mit, billige Arbeitskräfte aus dem Ausland. „Aber für acht Mark arbeite ich nicht.“ Eberhard Hasse, Fischers Kollege, nickt eifrig: „Davon kann man doch nicht leben.“ 30 Bewerbungen habe der 45-jährige Maurermeister geschrieben und nicht einmal Antwort erhalten. „Wenn die Ausländer uns hier die Arbeit wegnehmen, müssen wir eben selbst ins Ausland“, sagt Fischer. 2.400 Gulden (2.130 Mark) bieten die Holländer, bar auf die Hand. Plus Unterkunft. Während des Lehrgangs kamen die holländischen Arbeitgeber und stellten neue Forderungen. 1.000 Steine pro Tag, hieß es plötzlich, müssten die Jobanwärter mauern können. „Kein Problem“, sagt Hasse. Für das Arbeitsamt schon. Deutsche Maurer sind Akkordarbeit nicht gewohnt. Und anders als Hasse und Fischer sind die meisten Lehrgangsteilnehmer keine gelernten Maurer. In vier Wochen können sie unmöglich lernen, was die Holländer verlangen.

Was heißt schon „gering“?

Die Arbeitslosen wissen das. Aber ihr Motiv ist ohnehin ein anderes. Sie besuchen den Lehrgang, um weiterhin Arbeitslosengeld beziehen zu können, um nicht herabgestuft zu werden in der komplizierten Leistungshierarchie des deutschen Sozialstaats. „Ohne den Lehrgang“, sagt der 20-jährige Verfahrensmechaniker Sven Kreienbring, „hätte ich ja bald nur noch Arbeitslosenhilfe bekommen“. Und außerdem, erklärt er, sei „Holland sowieso zu weit weg“.

Ja, Holland ist weit weg. Nicht nur geografisch. „In den Arbeitsämtern können Sie mit einer Kanone durchschießen, ohne dass jemand zu Schaden kommt“, sagt Jan Bemelmans, Eures-Berater aus Venlo. „So leer ist es dort.“ Die Arbeitslosenquote liegt um die fünf Prozent. Damit den Ämtern nicht die Arbeit ausgeht, beschäftigen sie sich nun vor allem damit, Arbeitskräfte zu rekrutieren, überwiegend in Deutschland. Jetzt sitzt Bemelmans im Gruppenraum 2 des Leipziger Arbeitsamtes und bietet „Gruppeninfos“ an zu Renten- und Krankenversicherung, Kindergeld und Nettolöhnen. Wie sein Leipziger Kollege Haesler sagt auch er oft und gerne: „Das Interesse nimmt immer mehr zu.“

Und auch Michael Elsenbach von der niederländischen Jobvermittlungsfirma Dactylo, die seit Jahren im Grenzgebiet deutsche Arbeitskräfte anwirbt und nun erstmals auch in Ostdeutschland auftritt, sagt: „Das Interesse im Osten ist sehr hoch.“ Die meisten Deutschen, meint der 32-Jährige, seien viel flexibler als man denkt. „Aber sie sind nicht daran gewöhnt, weil sie in einem System leben, das nicht flexibel ist.“ Elsenbach muss wissen, wovon er spricht. Er selbst ist gebürtiger Krefelder, seit drei Jahren lebt und arbeitet in den Niederlanden. Inzwischen hat er es bei Dactylo zum Projektmanager Deutschland gebracht.

Hans-Joachim Haesler ist zufrieden. Die Veranstaltung war gut besucht. Es war schon die dritte, die er innerhalb eines Jahres auf die Beine gestellt hat. Und die Vermittlungszahlen? Haesler seufzt. Laut offizieller Statistik ist der Erfolg seiner Arbeit „verschwindend gering“, räumt er ein. „Aber was heißt gering?“ Es klingt wie eine hochphilosophische Frage. „Für uns sind 30 vermittelte Leute viel“, sagt er. Ohnehin müsse man das langfristig sehen. Und dass sich immer mehr Leute für Europa interessieren, sei schließlich auch schon ein Erfolg. Da blitzt Haeslers Lächeln wieder auf, und dann sagt er: „Natürlich erfahren wir nicht von jedem, dass er durch unsere Bemühungen einen Job gefunden hat.“ Demnächst soll ein Rückantwort-Formular Abhilfe schaffen. Zumindest die deutsche Bürokratie schafft sich ihre Arbeit selbst.

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