piwik no script img

wir lassen lesenVom wilden Volksspiel zur Schampus-Liga

Ein fußballhistorischer Crashkurs

Geschichtsunterricht kann die Hölle sein, wir erinnern uns. Insbesondere das Herunterbeten von Jahreszahlen gilt als Armutszeugnis allererster Güte. Weil Zahlen nichts sind als lauter totes Zeug, weil sie mitnichten dafür stehen, dass wir begreifen, Zusammenhänge erkennen, Schlimmes verhindern helfen, and all that.

Machen wir uns dennoch den Spaß und widmen uns als Quasi-Bewältigung erlittener Schultraumata einem kleinen Spielchen: Reihen wir doch ein paar Gegebenheiten aus der Geschichte des Fußballs aneinander und probieren uns an deren chronologischer Einsortierung. Wann also bitte schön wurde im Fußball die Halbzeitpause eingeführt, wann das erste Flutlichtspiel angepfiffen, das Herunterstoppen des Balles mit der Hand verboten, die erste Profikicker-Gewerkschaft in England gegründet? Wann die Rückpassregel ersonnen, die Gelb-Rote Karte, die Trillerpfeife, das Elfmeterschießen nach Verlängerung, der rechteckige Strafraum statt eines bis dato halbkreisförmigen?

Dem Leser, der an dieser Stelle schwächelt, kann geholfen werden. In Form einer Zeittafel zur Fußballgeschichte im Anhang des Buchs von Dietrich Schulze-Marmeling, das der Einfachheit halber „Fußball“ heißt. Da in lesenswerten Büchern bekanntermaßen zumeist auch vor dem Epilog noch das ein oder andere Substanzielle geschrieben steht, das die Verschwendung von Papier und schriftstellerischer Ressourcen rechtfertigt, vertiefen wir uns ein wenig in die ersten zweihundert Seiten. Der Autor erzählt die „Geschichte eines globalen Sports“ (so der Untertitel), nimmt den plumpen Lederball im Mutterland des Fußballs auf und dribbelt ihn furios durch die Jahrhunderte bis hinein in die Mega-Fernseh-Inszenierungen der Schampus-Liga. Zweifellos ein kühner Spagat, doch Schulze-Marmeling erringt nahezu perfekte Haltungsnoten.

Zwischendrin lesen wir vom Fußball als Opium des Volkes, dem Wandel des Spiels vom individualistischen „Dribbling Game“ zum kollektiveren, arbeitsteiligeren „Passing Game“, von der Ausweitung des „Proletensports“ in Europa, den Anfeindungen im nationalduseligen, turnbewegten Deutschland („Fußlümmelei“), der Geburt des Trainers, der Einführung des Transfer- und Ablösesystems, vom Werden der Verbände, dem Aufstreben des afrikanischen Fußballs und einer sich etablierenden neuen Weltfußballordnung. Ein spannendes, ambitioniertes historisches Patchwork, Generationen und die halbe Welt umspannend, gespeist aus intensiven Studien des Fußballs und seiner Geschichte (siehe das Literaturverzeichnis zum Zungeschnalzen) und den nimmermüden Diskussionen der Expertenrunde „der Ü-32- und Ü-40-Kicker des Tus Altenberge 09 im Münsterland, die seit Jahren jeden Montag zusammensitzt, um die fußballerischen Entwicklungen auf unserem Globus zu erörtern“. Erkenntnisse, die sich sehen lassen können und zudem der weit verbreiteten Auffassung entgegentreten, dass Fußballgespräche an Stammtischen notgedrungen Auswüchse hohlköpfiger Trunkenbolde sind.

Allerdings gibt es während des Lesens das ein oder andere Déjàa vu, als hätten wir einiges von alldem schon irgendwann einmal irgendwo gelesen. Ja, richtig, bei Schulze-Marmeling. Der hat nämlich vor acht Jahren schon einmal weit ausgeholt und über die subversive Kraft des rollenden Leders ein hochgelobtes Buch geschrieben („Der gezähmte Fußball“), aus dem er sich hier kräftig bedient, wenn auch „in stark bearbeiteter Form“. Da der Autor den ungehemmten Zugriff auf seine frühere Veröffentlichung freimütig einräumt, müssen so gewichtige Wörter wie Etikettenschwindel vielleicht nicht bemüht werden.

Aber es bleibt doch ein schales Gefühl und die Einschränkung, dass Schulze-Marmeling 2000 vor allem jenen empfohlen sei, die immer schon einen fußballhistorischen Crashkurs absolvieren wollten und es bislang noch nie zu tun wagten, solchen, die darauf brennen zu erfahren, welche Erkenntnisse der Autor den Entwicklungen in den 90er-Jahren abgewinnt (wie in den beiden letzten Kapiteln des Buchs „Die Fußball-Revolution – vom Sportverein zum Unterhaltungskonzern“ und „Die Angst des Spielers vor dem Fehlpass“ brillant beschrieben), und eben denen, die wissen wollen, seit wann man nicht mehr im Abseits steht, wenn sich im Augenblick des Passes nicht mehr drei, sondern nur noch zwei Spieler zwischen Angreifer und der gegnerischen Torlinie befinden.REINER LEINEN

Dietrich Schulze-Marmeling: „Fußball – Zur Geschichte eines globalen Sports“. Verlag Die Werkstatt. Göttingen, 2000, 255 Seiten, 19,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen