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„Vorkämpfer der Freizügigkeit“

Ich bin’s nicht, Erich Honecker ist’s gewesen: Ex-Politbüro-Mitglied Herbert Häber kann die Anklage gegen ihn überhaupt nicht verstehen

aus Berlin NICOLE MASCHLER

Vier Jahre lang hatte Herbert Häber auf diese Gelegenheit gewartet. Hatte sich jeden Satz zurechtgelegt, um im letzten großen Prozess gegen DDR-Spitzenfunktionäre um die Todesschüsse an der Mauer endlich seine Unschuld zu beweisen. Der einstige Westexperte der SED sieht sich als Mobbing-Opfer. Er, der doch stets für eine durchlässigere Grenze und bessere Kontakte zum Westen kämpfte.

Doch das hat der Staatsanwalt anders gesehen und Freiheitsstrafen für Häber und seine beiden Mitangeklagten Siegfried Lorenz und Hans-Joachim Böhme gefordert. Sein Vorwurf: Als Politbüro-Mitglieder hätten sie nichts für eine Lockerung des Grenzregimes getan und damit vier Todesfälle zwischen 1984 und 1989 billigend in Kauf genommen. Sein Antrag: Zwei Jahre Bewährung wegen vierfachen Totschlags für Häber, zwei Jahre und neun Monate Gefängnis für Lorenz und Böhme, einst SED-Bezirkschefs von Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und Halle, seit 1986 Politbüro-Mitglieder. Heute fällt das Urteil.

Während Lorenz und Böhme lediglich ein kurzes Statement zu Beginn des Prozesses abgaben und seither eisern schwiegen, hat Häber im Laufe der zehn Verhandlungstage jede Gelegenheit genutzt, seine Sicht der Dinge darzulegen. Für Staatschef Erich Honecker habe er 1984 einen Geheimplan ausgearbeitet: Schrittweise Öffnung der DDR-Grenze gegen Devisenkredite aus der BRD. Doch als sein Chef mit dem so genannten „Züricher Modell“ in Moskau abblitzte, waren auch Häbers Tage im Politbüro gezählt. Am Ende landete der Plan im Papierkorb und sein Erfinder – von den Genossen isoliert und von der Stasi bespitzelt – im Frühsommer 1985 in der Psychiatrie. „Ich war ein Polit-Statist auf Abruf.“ Und deshalb fühlt sich der Angeklagte Häber nun als Fehlbesetzung: An den wesentlichen Entscheidungen zur Grenzsicherung sei er niemals beteiligt gewesen. Ergo: Freispruch.

Im falschen Film wähnt sich auch Lorenz-Verteidiger Friedrich Wolff. Zu DDR-Zeiten moderierte der einstige Honecker-Anwalt die Ratgeber-Sendung „Alles was Recht ist“. Und alles was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein, glaubt Wolff. „Was das Politbüro tat oder unterließ, war nach DDR-Recht nicht strafbar.“ Spätestens seit 1982 waren Schüsse an der Grenze qua Gesetz gerechtfertigt, um eine Straftat zu verhindern – galt doch Republikflucht als Verbrechen. Nun werde der Rechtsgrundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ aufgegeben, um die DDR zu kriminalisieren, argumentiert der Verteidiger. Doch angehende Juristen lernen in ihrem Studium auch eine andere Formel kennen: Unter dem Eindruck des NS-Unrechts hat der Heidelberger Jurist Gustav Radbruch den Grundsatz aufgestellt, dass Gerichte Gesetze nicht anwenden dürfen, wenn diese „in unerträglichem Maße der Gerechtigkeit widersprechen“. So ist es mit Paragraph 27 des Grenzgesetzes und den Todesschüssen, argumentiert der Staatsanwalt.

Die juristischen Fronten sind rasch abgesteckt – und die ideologischen auch. Im Zuschauerraum lässt sich während zehn Verhandlungstagen die ehemalige DDR-Nomenklatura nieder, unter ihnen auch der bereits verurteilte Verteidigungsminister Heinz Keßler. Rentner mit Krückstock und viel Zeit, die sich unerschütterlich eine Stunde vor Prozessbeginn für einen Platz anstellen. Im Gerichtssaal verfolgen sie angespannt jede Regung der Genossen. Man kennt sich noch aus FDJ-Zeiten, hat „zusammen gearbeitet und gekämpft“. Da sei es selbstverständlich, dass sie den ehemaligen Mitstreitern auch jetzt zur Seite stünden, sagt Ruth Haller, einstige Bezirksvorsitzende des Demokratischen Frauenbundes der DDR (DFD) in Halle.

Die Sympathien sind klar verteilt. Vor dem Gerichtssaal händigt Charly Böhm vom Solidaritätskomittee die Erklärungen der „Genossen Lorenz und Böhme“ aus, roter Sonderdruck des Marx-Engels-Clubs in der DKP. Mit der PDS hat die Frührentnerin nicht mehr viel am Hut, seit Gregor Gysi die Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik anpreist. Und für einen Verräter hält sie auch Herbert Häber – wenngleich sie es anders ausdrückt. Den Professorentitel aus der DDR trage er weiter, die Gesinnung habe er nach der Wende lieber abgelegt. Ruth Haller wird deutlicher: „Häber hätte besser daran getan, zu seiner Verantwortung zu stehen.“

Verantwortung ja, Schuldspruch nein. Der Prozess, findet Ruth Haller, sei eine „Schweinerei“. Wie sie denken die meisten hier. Bitteres Lachen, wenn der Staatsanwalt von „standrechtlicher Verhängung der Todesstrafe“ spricht. Raunen, wenn der Vertreter der Nebenklage die Beschuldigten als „Märtyrer“ bezeichnet. Auf der Anklagebank, glaubt Charly Böhm, sitzt die DDR und mit ihr ein ganzes Volk. Tatsächlich wirken die Zuschauer wie ungebetene Gäste. Nur widerwillig lässt die Justizangestellte sie zur Hintertür hinein. Stirnrunzeln auch bei Staatsanwalt Bernhard Jahntz, wenn sein Vergleich zwischen der Beteiligung an der Invasion in der Tschechoslowakei 1968 und dem Hitler-Einmarsch 1938 Protestrufe provoziert.

Lästig sind die „Sympathisanten“ wohl vor allem deshalb, weil sie das Gericht an den Streit um die Aufarbeitung von DDR-Recht erinnern. Seit 1996 hat die Strafkammer den Prozess immer wieder verschoben, offiziell wegen Überlastung. Tatsächlich, glauben Juristen, wollten die Richter zunächst die Rechtskraft des ersten Politbüro-Prozesses abwarten. Im vergangenen November bestätigte der Bundesgerichtshof das Urteil gegen den letzten Staats- und Parteichef der DDR, Egon Krenz, und ein wenig scheint es, als wollte das Gericht den Prozess nun möglichst schnell hinter sich bringen. Es erweckt den Eindruck eines merkwürdigen Desinteresses, dass das Landgericht sämtliche Zeitzeugen kurzerhand zurückweist. Als sei alles gesagt.

Das Problem des Verfahrens liegt darin, dass von den drei Angeklagten nur Häber am letzten Beschluss vom Juni 1985 mitgewirkt haben konnte. Und der will zu diesem Zeitpunkt – psychisch krank und im Visier der Stasi – längst nicht mehr handlungsfähig gewesen sein. Auch wenn er offiziell erst im November aus dem Politbüro ausgeschieden ist. Eine Schutzbehauptung, hat prompt der Staatsanwalt befunden und deshalb die Anklage geändert, genauer gesagt, verschärft. Nicht Unterlassen heißt es dort jetzt, sondern „aktives Tun“. Alle Angeklagten hätten es unterlassen, die Todesschüsse an der Mauer zu verhindern. Obwohl es das oberste Machtorgan der DDR in der Hand hatte, die Beschlüsse zum Grenzregime auszusetzen.

Dem Antrag seiner Mitangeklagten Lorenz und Böhme, die das Verfahren schon nach dem ersten Prozesstag einstellen wollten, mochte sich Herbert Häber nicht anschließen. Er wollte seine Sicht der Dinge erzählen. „Gerade ein Vorkämpfer für Freizügigkeit“ sei er gewesen, protestiert er in seiner Abschlussrede. Dabei ist nicht ganz klar, wem seine Worte eigentlich gelten. Dem Richter vor ihm oder den einstigen Genossen hinter ihm. Fast scheint es, als habe er sich für die Justiz entschieden: Eilfertig verteilt er die Blätter, die ihm der Vorsitzende überreicht, dankt höflich für den fairen Prozess. Doch je mehr Häber zur Vergangenheit auf Distanz gehen will, desto stärker verfolgt sie ihn. Erst in der vergangenen Woche habe er in der bayrischen Landesvertretung seinen einstigen Verhandlungspartner Philipp Jenninger wiedergetroffen, den ehemaligen Bundestagspräsidenten. „Partner von früher haben keinen Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit und Kompetenz“, sagt Häber. In seiner Stimme schwingt Stolz. „Volksschauspieler“, zischt das Publikum, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Die Geschichte, argumentierten Kritiker zu Beginn der Mauer-Prozesse, ist noch immer der beste Richter.

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