Grund der Ausweisung: Sucht

Abschiebung statt Methadonprogramm: Gericht gibt in Deutschland geborenem Türken keine Chance. Kauf von 1,3 Gramm Hasch soll den Ausschlag geben  ■ Von Kaija Kutter

Der vierjährige Okan nascht am Nutella-Glas. „Er isst komisch, mal nur Brot, mal nur Aufstrich“, entschuldigt sich Mutter Yasemin* beim Besuch. Vater Selahatin setzt sich mit seiner Zigarette auf einen kleinen Sessel zwei Meter weit weg, damit der „Kleine“ nicht soviel Rauch abkriegt. Eine ganz normale Familie mit ganz normalen Sorgen an einem Montagabend in einer Wilhelmsburger Dachgeschosswohnung. Das Familienglück währt noch nicht lange und wird wohl auch nicht mehr lange dauern. Selahatin wurde erst im März nach einjähriger Haftstrafe aus einem Bergedorfer Gefängnis entlassen. Das Ausländerrecht straft den 28-Jährigen nun doppelt: weil er verurteilt ist, erfüllt er die Voraussetzungen einer „Regel-Ausweisung“. Zwei Monate nach Haftende, das hatte ihm die Hamburger Ausländerbehörde mitgeteilt, soll er das Land verlassen.

Die Beziehung zu seinem Sohn, so schreibt das Amt, könne schon aufgrund der „haftbedingten Abwesenheit“ so eng nicht sein, dass es sich zum Nachteil des Kindes auswirke. Auch sei dem Vater der Kontakt „per Post und Telefon“ aus dem Ausland unbenommen.

Selahatin Kuscu wurde 1971 in Heidelberg geboren, seine Kindheit hat er auf St. Pauli verbracht. Da er, wie viele Migrantenkinder, weder die deutsche noch die türkische Sprache und Grammatik richtig erlernte, wurde er zum Schulversager, kam auf eine Schule für Lernbehinderte. „Ich konnte mich nie konzentrieren“, sagt Kuscu heute, „hatte immer nur schicke Klamotten im Kopf“. Sein Vater kaufte preiswerte Turnschuhe mit zwei Streifen. Die anderen Kinder hatten echte Adidas. Kuscu klaute sie. Mit 14 habe er oft auf der Straße geschlafen, erzählt er. Nicht selten brachte ihn die Polizei heim. Sein Vater war enttäuscht vom ältesten Sohn, er habe Schläge bekommen. Er entfernte sich vom Elternhaus, geriet „an die falschen Leute“. Schließlich nahm er Heroin, hat bis heute damit zu kämpfen. „Die Mehrzahl seiner Straftaten“, das schreibt die Richterin, die seine vorzeitige Haftentlassung verfügte, „resultierten aus dieser Sucht“.

„Der Knast hat mir geholfen“, sagt Kuscu nun. Ihm sei klar geworden, dass er Familie und Verantwortung habe und dass sich in seinem Leben etwas ändern müsse. Bereits in der Haftanstalt nahm er Methadon. Seit seiner Entlassung holt er sich täglich eine geringe Dosis bei der Harburger Drogenambulanz ab. Der Drogenersatz hilft ihm, sein Leben in den Griff zu bekommen. Kuscu würde gern arbeiten, Geld verdienen, damit seine Familie eine größere Wohnung und Okan ein Kinderzimmer bekommt. Die soziale Situation Kuscus sei abgesehen vom ausländerrechtlichen Status, „die beste, die er seit Jahren hatte“, schreibt auch sein Rechtsanwalt Matthias Boot in einer Stellungnahme ans Gericht. Denn im Unterschied zu einer früheren stationären Therapie auf dem Land, die Kuscu abbrach, habe sich das Methadonprogramm der Hansestadt „eindeutig bewährt“.

Ein Abbruch der Methadonbehandlung würde zur „psychischen Destabilisierung und zu selbstgefährdendem Konsum illegaler Drogen führen“, heißt es auch in einer Stellungnahme der Harburger Drogenambulanz, die sich für Kuscu einsetzt. Bei einem Termin vor dem Verwaltungsgericht Anfang Mai sah es zunächst so aus, als fänden diese Argumente bei der zuständigen Richterin Gehör. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, darauf wies die Juristin selber hin, dürfe Kuscu nur ausgewiesen werden, wenn es sonst eine „konkrete Gefahr für erhebliche Rechtsgüter“ gebe. Die Ausländerbehörde hatte bei ihrer bisherigen Entscheidung zu wenig berücksichtigt, dass Kuscus Angehörige hier leben und arbeiten und er selbst damit gemäß eines Abkommens mit der Türkei verstärkten Abschiebeschutz genießt. So arbeitet seine Mutter seit 27 Jahren in der Küche der Hamburger Uni-Mensa. Der Vater war bis zur Rente als Werftschweißer beschäftigt.

Drei Tage nach dieser Verhandlung schaffte Kuscu es nicht rechtzeitig zur Drogenambulanz, die täglich nur zwei Stunden geöffnet hat. Da er unter Entzugserscheinungen litt, fuhr er zum Hauptbahnhof, wo ihn die Polizei beim Erwerb von 1,3 Gramm Cannabis erwischte. Außerdem stand er daneben, als eine Frau einen Beutel Heroin erwarb. Diesen Vorfall nehmen Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht nun zum Anlass, um tabula rasa zu machen. Es bestehe die Gefahr, dass er auch „härtere illegale Drogen erneut konsumiert und wieder in die Beschaffungskriminalität abrutscht“, heißt es in einer Stellungnahme der Ausländerbehörde an das Verwaltungsgericht.

Sämtliche Urinkontrollen auf illegale Drogen bei Kuscu seien stets negativ ausgefallen, hält die Drogenambulanz Harburg dagegen. Der einmalige Cannabis-Konsum sei keineswegs ein Zeichen dafür, dass die Therapie missglückt. Im Gegenteil, es sei ein gutes Zeichen, wenn Kuscu auf weiche Drogen ausweiche und die Finger vom Heroin lasse. Das Verwaltungsgericht teilt diese Einschätzung nicht. Es sei davon auszugehen, dass Kuscu drogenabhängig bleibe und auch in Zukunft Straftaten begeht, schreibt das Gericht in seinem Beschluss vom 7. Juni. Dem jungen Mann sei eine „Integration in deutsche Lebensverhältnisse“ nicht gelungen.

Der sitzt nun in seiner Wohnung und hat Angst. Angst vor einem kalten Methadon-Entzug, der, das habe ihm sein Arzt erklärt, um ein vielfaches härter sein soll als der vom Heroin. Angst vor der Türkei, die er nur vom Strandurlaub her kennt. „Ich kann die Straßenschilder nicht mal lesen, ich kenne mich nicht aus“, sagt er. Bis auf eine 85-jährige Oma in Ankara habe er dort auch keine Verwandten. „Wenn Selahatin schon hier kaum zurecht kommt, wie soll er es denn dort schaffen“, fragt auch seine Freundin Yasemin und will wissen, wie es juristisch um ihn steht. „Schlecht?“ Ja. Anwalt Boot, der in Kuscu den „Hamburger Mehmet-Fall“ sieht, hat zunächst die Zulassung einer Beschwerde gegen den jüngsten Gerichtsbeschluss beantragt. Hat dies Erfolg, wird die Sache höhere Instanzen beschäftigen. Wenn nicht, bleibt nur die Möglichkeit einer Petition an die Bürgerschaft. Dann müssen Politiker klären, ob ein Mensch, der nur in dieser Stadt aufgewachsen ist, weg soll, weil er süchtig ist. Oder ob man Kuscu dieselbe Chance gibt, die jeder deutsche Drogenabhängige auch hat.

*Name geändert