: Ein „Who’s who“ des jüdischen Alltags
Das Archiv des Jüdischen Museums sammelt Fotos, Schriften und andere Nachlässe, die jüdisches Leben in Berlin dokumentieren. Die meisten Dokumente sind Schenkungen von Privatpersonen – nicht selten von Spielberg motiviert
Solche Fotos entstehen sonst nur auf einer Hochzeitsreise. Vor der Ruine der Gedächtniskirche verabschieden sich David Minster und seine Frau Erika von Berlin, in Ludwigsburg sieht man sie am Flussufer, weiter geht es auf Ozeandampfern. Doch die vielen Bilder in dem ledergebundenen Album, das Erika ein halbes Jahrhundert später dem Jüdischen Museum in Berlin schenkte, gelten keiner Vergnügungsreise. Sie dokumentieren die Geschichte ihrer Emigration, 1948 in die USA. Plötzlich meint man, in den begeisterten Schnappschüssen von der Seereise die Freude des Überlebens ahnen zu können. In New Orleans posieren die Angekommenen zwischen hölzernen Indianern und Kakteen. Eine vollendete Geschichte vom neuen Anfang.
Zu dem liebevoll sortierten Album gehört eine Sammlung loser Fotos, die David Minsters Leben als Schauspieler zwischen 1946 und 1948 betreffen. Im Lager für Displaced Persons (DP) in Schlachtensee gründete er mit anderen das erste jüdische Theater der Nachkriegszeit „Baderech“. Man sieht ihn bei Rundfunkaufnahmen im Rias und bei Dreharbeiten zu dem Film „Die Namenlosen“, produziert von Atze Brauner. Nichts auf diesen professionellen Fotos weist über den Rand der Inszenierung – keine Spuren der Verfolgung, des Krieges oder des Lebens im DP-Lager. Dennoch gehören die Bilder zu den wichtigsten Dokumenten, die das Archiv bei seinen Recherchen zu den DP-Lagern erreicht haben.
Wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, erzeugt jedes Dokument weitere Fragen. Was für Stücke spielten sie im Lager, wer sind die anderen Schauspieler? In der Emigrantenzeitschrift Aktuell, die der Berliner Senat in 13.000 Exemplaren druckt und verschickt, fragen sie jetzt nach Mordechai Abelman, der oft neben Minster auftrat. „Zeugnisse zur Nachkriegszeit“, sagt Leonore Maier, Mitarbeiterin des Archivs des Jüdischen Museums, „haben wir nur wenige. Vielleicht, weil das zu nah dran ist an der Gegenwart und kaum jemand weiß, dass uns als Museum auch der Alltag interessiert.“
Über 800 Nachlässe, die teils bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, verfügt das Archiv, das größtenteils auf Geschenken aus Privatbesitz beruht. Es bildet neben den Sammlungen von Zeremonialobjekten, von Werken jüdischer Künstler und den Materialien zum Leben prominenter Juden einen wichtigen historischen Baustein. Hundert Konvolute kamen im letzten Jahr dazu.
Die Frage, warum sich das Berliner Museum erst in den letzten Jahren verstärkt einer Aufgabe angenommen hat, der das Leo-Baeck-Institut in New York schon lange nachgeht, wird den Mitarbeitern nicht gestellt. Oft sind es die Kinder, die mit den Schenkungen Erinnerungen an ihre Eltern an einen Ort bringen wollen, den deren Geschichte sehr viel angeht. Für manche Stifter hat mit den Interviews von Stephen Spielberg der Prozess begonnen, ihre Geschichte sichern zu wollen.
„Eine Dame brachte ein Foto, auf dem ihr Onkel 1925 auf einer Herrengesellschaft unter leitenden Angestellten des Großkaufmanns Jakob Michael zu sehen war. Für Michael, der zu den erfolgreichsten Unternehmern der Zwanzigerjahre gehörte und als Förderer von sozialen und wissenschaftlichen Einrichtungen bekannt war, interessierte sich das Archiv sehr. Die Stifterin stellte den Kontakt zu seinem Sohn her, der ein kleines Heft mit einer Spendenliste des Jüdischen Hilfswerks auslieh. Das Heft liest sich wie ein „Who’s who“ der Jüdischen Gemeinde. Ob solches Quellenmaterial einmal Teil der Ausstellung wird oder in erster Linie der Forschung dient, ist oft noch nicht entschieden.
KATRIN BETTINA MÜLLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen