: Bezwingen durch Umarmen
Schröders Erfolgsformel heißt Konsens. Der nützt der Regierung, nützt den meisten Abgeordneten, findet Anklang bei den Bürgern. Warum also streiten?
von BETTINA GAUS
Welchen Anteil hat Rita Süssmuth daran, dass die Opposition derzeit kein Interesse an einer neuen Runde der Rentengespräche zeigt? Wären die Aussichten für die Steuerreform im Bundesrat besser, wenn das Lächeln des Kanzlers in den letzten Wochen etwas weniger spöttisch gewesen wäre? Psychologische Faktoren lassen sich nicht konkret in Zahlen und Mehrheitsverhältnisse übersetzen. Aber sie spielen in der Politik keine geringere Rolle als anderswo, und manches spricht dafür, dass Gerhard Schröder bei seinen Umarmungen politischer Gegner ein bisschen zu übermütig geworden ist.
Dabei war er bisher überaus erfolgreich mit vergifteten Freundlichkeiten. Schröders Strategie war ebenso leicht zu durchschauen wie schwer zu bekämpfen: Nicht mit messerscharfen Angriffen, sondern mit verschwenderischen Komplimenten und ehrenvollen Aufgaben säte er Zwietracht im Lager der politischen Widersacher – und freute sich daran. Bei zahlreichen wichtigen Themen waren prominente Vertreter von Oppositionsparteien fest in die Regierungsarbeit eingebunden.
Nahrung für die Eitelkeit
Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat Empfehlungen für eine Reform der Bundeswehr ausgesprochen, die von der Koalition zwar in wesentlichen Teilen nicht befolgt, dafür aber umso lauter gelobt worden sind. Otto Graf Lambsdorff von der FDP verhandelte über Entschädigungen für ehemalige Zwangsarbeiter. Sein Parteifreund Burkhard Hirsch forschte im Kanzleramt nach verschwundenen Akten. Sie alle haben sich aus der aktiven Politik zurückgezogen, und sie sind alle in einem auch für Berufspolitiker ungewöhnlich hohen Maße eitel. Eitelkeit braucht Nahrung. Der Kanzler hat Futter geliefert.
Gerhard Schröder hat nie ein Hehl aus seiner Überzeugung gemacht, dass jedermann (und jede Frau) zu ködern ist. Der richtige Köder muss nur gefunden werden. Mit der Offerte an Rita Süssmuth, den Vorsitz einer Kommission für Einwanderung zu übernehmen, ist er nun allerdings zum Opfer seiner eigenen Eitelkeit geworden. Die lässt ihn glauben, allein sein psychologisches Geschick könne die Gegner dauerhaft lähmen. Aber die CDU-Politikerin sitzt noch im Bundestag, und sie ist auch in den eigenen Reihen nicht unumstritten. Da schreit die lange stumm leidende Opposition dann doch gequält auf.
Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen bestanden auch schon vorher. Aber jetzt ist der Ton schärfer geworden. Die Union will sich endlich aus der freundlichen Umklammerung befreien, und sie nutzt den geplanten Umbau des Rentensystems und die Steuerreform, um endlich wieder das eigene Profil zu schärfen. Ob sie damit erfolgreich sein kann? Das ist zu bezweifeln, wenn man genau betrachtet, wem eine Einigung dient – und was für einen Stellenwert der politische Konsens in Deutschland heute genießt.
Zunächst und vor allem nutzt jede Übereinkunft natürlich der Regierung. Bei ihr liegt die Initiative für politisches Handeln. Deshalb schreiben die Befürworter einer Reform diese auch jeweils dem Konto der Herrschenden gut. Wenn die Opposition einer Neuerung zugestimmt hat, dann können Kritiker die Regierung bei Wahlen nicht einmal mehr für den aus ihrer Sicht falschen Schritt bestrafen. Eine Einigung über Parteigrenzen hinweg stabilisiert also immer die bestehenden Machtverhältnisse. Es ist kein Zufall, dass die Union dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine nichts anderes je so übel genommen hat wie seine Blockade der Steuerreform.
Darüber hinaus aber liegt eine Einigung fast immer auch im Interesse der Mehrheit der Abgeordneten, unabhängig davon, welcher Partei sie angehören. Eine Entscheidung, die von den großen politischen Lagern gemeinsam getroffen worden ist, lässt sich im Wahlkreis gegenüber der Bevökerung leichter verteidigen als eine Minderheitenposition. Das ist für die einzelnen Parlamentarier vor allem dann hilfreich, wenn sie auf dem jeweiligen Gebiet keine Fachleute sind.
Ohnehin genießt eine parteiübergreifende Einigung meist das Wohlwollen einer Mehrheit der Bevölkerung. Je geringer das Interesse Einzelner an Politik ist, desto größer ist auch deren Neigung, politischen Streit für eine besondere Form schlechten Benehmens zu halten. Das war früher nicht anders als heute. Was sich in den letzten Jahren geändert hat, ist nicht die Haltung vieler Wählerinnen und Wähler, sondern die der politischen Akteure. Den nationalen Konsens als Wert an sich zu betrachten war jahrzehntelang tendenziell demokratiefeindlichen Teilen der Bevölkerung vorbehalten. Das Ende des Kalten Krieges, der Prozess der Globalisierung und die angesichts der Entwicklung der Europäischen Union schwindende Bedeutung des Nationalstaats haben jedoch einen schleichenden Wandel des politischen Klimas erzeugt.
Das Zauberwort der Zeit
Seit jeher hat die starke Stellung des Föderalismus in der deutschen Verfassung es unmöglich gemacht, wesentliche bundespolitische Veränderungen gegen den Willen der Länder durchzusetzen. Infolge der immer dichter werdenden internationalen Verflechtung vor allem auf EU-Ebene braucht jede Bundesregierung aber inzwischen immer häufiger nicht nur die Zustimmung der untergeordneten, sondern auch die der nächsthöheren politischen Ebene. Das hat den Handlungsspielraum erheblich verengt. Ist es vor diesem Hintergrund erstaunlich, wenn im Parlament nicht mehr über Grundsatzfragen gestritten, sondern allenfalls über Spiegelstriche gezankt wird? Wie zum Beispiel jetzt im Zusammenhang mit der Steuerreform?
Politiker neigen dazu, aus der Not eine Tugend zu machen. Konsens ist mittlerweile zum Zauberwort der Zeit geworden. Vom Umbau der sozialen Sicherungssysteme über internationale Militäreinsätze bis hin zur Europapolitik werden fast alle wichtigen Themen von führenden Politikern für allzu bedeutend erklärt, als dass sie zum Gegenstand einer politischen Kontroverse werden dürften. Welche Aufgabe haben die Parteien dann noch?
Ungeachtet aller Gemeinsamkeiten dienten mindestens die großen Volksparteien früher als Sammelbecken konkurrierender Staats- und Gesellschaftsmodelle. Die SPD hatte mit dem Godesberger Programm zwar ihren Frieden mit dem System gemacht, sich aber dennoch nicht vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz verabschiedet. Die Unionsparteien schweißte der Kampf gegen einen gemeinsamen Feind zusammen: den Kommunismus. Der Feind ist besiegt. Und nun? Nun geht es nur noch darum, wer der beste Handwerker des politischen Gewerbes ist. Diese Entwicklung beraubt allerdings die Demokratie eines wesentlichen ihrer konstituierenden Merkmale: der Wahl zwischen verschiedenen Alternativen.
Der SPD-Parteirat hat an die Ministerpräsidenten der Bundesländer appelliert, auf „parteitaktische Spielchen“ zu verzichten und die Steuerreform in Interesse Deutschlands zu billigen. Das klingt vertraut: Die Krise im Kosovo solle nicht Gegenstand von „kleinlichem Parteiengezänk“ sein, mahnte der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber letztes Jahr in einer Fernsehdiskussion. Joschka Fischer wurde nach seinem Amtsantritt monatelang nicht müde, zu betonen, es gebe keine grüne, sondern nur eine deutsche Außenpolitik. Worüber sollen Parteien nach dem Willen ihrer führenden Vertreter denn noch streiten dürfen? Unfreiwillig geben Politiker mit derlei Äußerungen zu erkennen, was sie vom hierzulande üblichen Prozess der demokratischen Meinungsbildung halten: nichts.
Kanzler des Zeitgeists
Gerhard Schröder wird sich auch weiterhin um freundliches Einvernehmen mit allen möglichen Beteiligten im Zusammenhang mit allen nur denkbaren Themen bemühen. Ihm liegt an den traditionellen Geleisen des Parlamentarismus nur dann etwas, wenn sie ihm nützlich zu sein vermögen. Die Probleme des Arbeitsmarktes erörtert er lieber im Bündnis für Arbeit als mit seiner Fraktion. Den Ausstieg aus der Atomenergie will er gemeinsam mit den Energieversorgern in Angriff nehmen. Ärger mit dem grünen Koalitionspartner wird nicht im Kabinett oder gar im Bundestag bereinigt, sondern in einem eigens dafür geschaffenen Gremium: dem Koalitionsausschuss.
In immer stärkerem Maße verlagert sich die politische Macht von formalen Institutionen wie dem Parlament in informelle Gremien hinein, die weder von der Verfassung vorgesehen sind noch der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Wie kein anderer verkörpert Kanzler Gerhard Schröder den Zeitgeist, also einen tief greifenden Wandel im Verständnis von Politik. Helmut Kohl hat Diskussionen und Kontroversen erstickt. Schröder moderiert sie – und erweckt dabei den Eindruck, stets und beständig auf der Suche nach der einzig „vernünftigen“ Lösung zu sein, die es seiner Meinung nach immer gibt und die eben einfach nur gefunden werden muss.
Früher galt Politik vorwiegend als die Suche nach einem Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen. Heute gilt der Kampf für die Interessen präzise definierter Gruppen zunehmend als anrüchig, und von der Existenz einer objektiv „vernünftigen“ Lösung scheinen mittlerweile die meisten politisch Handelnden überzeugt zu sein. Der politische Wettstreit beschränkt sich somit auf die Frage, wer dieser Vernunft am nächsten kommt. Das – und nur das – erklärt die drangvolle Enge in der virtuellen „neuen Mitte.“
PS: Aber geht es bei der Entscheidung des Bundesrates über die Steuerreform nicht vor allem darum, was im Inter- esse der Länder liegt? Nein. Wirklich nicht.
Über die neue Konsenspolitik hat Bettina Gaus im März bei der DVA ein Buch veröffentlicht: „Die scheinheilige Republik. Das Ende der demokratischen Streitkultur“.
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