: Nach der verlorenen Zeit
Seit es den Kaktusgarten nicht mehr gibt, ist der Alexanderplatz kein poetischer Ort mehr. Heute besucht man den Platz nur, um unzufrieden zu sein. Oder man verkauft „Ein Herz für Tiere“-Abos
von VOLKER WEIDERMANN
Seit der Kaktusgarten am Alexanderplatz abgeschafft wurde, ist der Alexanderplatz kein poetischer Ort mehr. Der Alexanderplatz ist überhaupt kein Ort mehr. Nur noch eine lästige Überquerungsstelle mit zahlreichen Verpflegungsmöglichkeiten unterwegs. Und selbst die Verpflegungsmöglichkeiten laufen herum und heißen „Grill-Walker“. Nur manchmal bleiben sie stehen, wenn ein lächelnder Handlungsreisender darauf besteht, neben einem bewegungslosen Grillwalker fotografiert zu werden. So als Kuriosum vom Platz der Schnelligkeit.
Warum wurde der Kaktusgarten abgeschafft? Hat der kalte Sommer ihn dahingerafft? Ein tückischer Trockengewächsvirus? Neue Sicherheitsbestimmungen, die stachlige Pflanzen an öffentlichen Orten untersagen? Nirgends ein Hinweis. Keine Erinnerung. Kein kleiner Gedenkkaktus aus Stein. Aleida Assman hat recht: Wir leben in einer geschichtsvergessenen Zeit. Schade.
Die Menschen sind auch sehr unzufrieden geworden, hier auf dem Alex. Seitdem das mit dem Kaktusgarten passiert ist. Die meisten wissen gar nicht, warum. Sie sind einfach missmutig und unfroh und atemlos: Ein Rentner mit Rentnerbrille und rot kariertem Hemd zu junger Radfahrerin zum Beispiel: „Hej! Pass uff!“ Sie: blickt fragend, bleibt an Ampel stehen. Rentnerbrille: „Ick schubs dich gleich runter.“ Sie: „Ja, warum denn?“ Er: „Ick schubs jeden runter, der zu nah an mich ranfährt.“ „Bin ich doch gar nich.“ „Zeig ick dir gleich.“ Sie: „Spinner!“ Radelt davon. Er bleibt zeternd zurück. Der rote Kopf passt gut zum Hemd.
Oder: Ein Ehepaar. Sie mit zerrauftem, rot gefärbtem Haar, er kahlköpfig und dick, laufen so in zwei Meter Abstand nebeneinander her. Er wimmert kläglich: „Was verlangst du eigentlich von mir? Ich bin seit drei Uhr früh auf den Beinen.“ Sie erwidert stets: „Ach was. Ach was!“ Und er: „Seit drei Uhr. Drei Uhr, verdammt noch mal.“ So überqueren sie den Platz.
Manchmal kommt es hier auch noch zu einer Art Begegnung: Zwei Männer, etwa dreißigjährig, Handwerker wohl, treffen auf zwei Mädchen, so achtzehnjährig, mit langen dunklen Haaren und lila Nylonwesten: „Hej Mädels! Wie wär’s mit uns?“ Die eine im Vorbeigehen: „Nee, ich muss in anderthalb Stunden arbeiten.“ Handwerker: „Das langt uns.“ Und sie: „Mir aber nicht.“ Und sind schon aneinander vorbei.
Immerhin: Bernd ist nett. Und Bernd hat Zeit. Bernd setzt sich zu mir auf den Rand des großen Blumentopfes mit den vertrockneten Stiefmütterchen. „Bin Bernd und komme aus dem Ruhrpott“, stellt er sich vor. Und ich frage mich schon, wie Bernd wohl an diesen Ort der Eiligkeit geraten ist und wie er mit seiner Ruhe da so zurechtkommt, da zieht er schon ein Klemmbrett hervor und fragt mich, ob ich nicht für einen Tag „Ein Herz für Tiere“ abonnieren möchte. „Für einen Tag?“ Er bekommt vom Verlag fünfzehn Mark dafür und ich ein Feuerzeug. Letzten Monat hätten sie Reisen nach Paris verschenkt. Da seien die „Herz für Tiere“-Abos nur so weggegangen. Mit den Feuerzeugen sei das schwieriger. Aber schlecht seien die nicht: „Guck. In Handy-Form. Und funktionieren sogar.“
Ach. – Auf den Alexanderplatz kommt man nicht mehr, um Nachzudenken, zu Betrachten oder Spaß zu haben. Auch das herrliche Beachvolleyballfeld („freiwillig errichtet von Jugendlichen unterschiedlichster Nationalitäten“ steht auf einem Schild) ist in diesem winterlichen Sommer verwaist, genau so wie das erste Recycling-Basketballfeld der Welt direkt daneben („Ich war ein AIR JORDAN“).
Wohin Alexanderplatz? Auf einem Infoplakat wird stolz erläutert, dass der Alexanderplatz schon bald „mit Hochhäusern verdichtet“ würde und dann ein zweiter Potsdamer Platz sein wird. Darauf weist bislang eher wenig hin. Bis auf die zahllosen, kleinen Baustellen, die über den ganzen Platz verteilt sind. Aber das sind mehr so klassische Berlin-Baustellen: Man reißt ein paar Pflastersteine heraus, errichtet ein Bauzaungestänge drumherum und lässt das dann ein paar Jahre so stehen. Damit man Motive hat, für die nächste Plakatserie „Eine Stadt im Aufbruch“ oder „Schaustelle Berlin“.
Ja. All das ist sehr ärgerlich. Doch einen Ort gibt es, an dem der Alex noch Platz ist. Und der ist in der Kuppel des Fernsehturms. An der Bar lehnend lässt sich von hier aus der ganze Ort aufs friedlichste betrachten. Und man muss sagen: Er hat etwas von Versailles, vom Charlottenburger Schlosspark, von Sanssouci, der Alex. Die verranzten Baumtöpfe stehen in schönster Reihe, die vertrockneten Blumenkübel bilden ein poetisches Karree und auch der Neptunbrunnen mit seinem weißen Renovierungsplastiküberzug erinnert von hier oben an einen winterlichen See im Park. Und wenn man ganz genau hinsieht, dann kann man in allergrößter Ferne noch den alten Kaktusgarten sehn. Das ist die Wahrheit.
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