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Klein ist nicht gleich klein

Kulturköpfe denken, Kinder- und Jugendtheater sei so klein wie seine Adressaten, und meinen, Kunst sei da fehl am Platz. Doch aus Grips geboren, nimmt sich das Genre schon lange mit Schwung der Alltagsprobleme an und betrachtet sie mit Zärtlichkeit

von SABINE LEUCHT

Kindereien, Kinderkram, kindisch: Kindertheater. Da, wo man sonntags mit dem Dreijährigen hingeht, weil das Spielzeug auf dem heimischen Fußboden auch mal eine Ruhepause braucht. Dort, im Theater, weiß man den Kleinen für ein Stündchen beschäftigt, und wenn man Glück hat, wird’s nicht gar zu peinlich. Oft aber hat man Pech, denn allüberall in Stadt und Land locken die neugeborenen Theaterbesucher allerlei bestenfalls gut meinende Amateure auf die Bühne, die weder Geschichten noch Passionen im Gepäck führen, und deren Handwerk sich darin erschöpft, Kinder für irgendwie niedlich, aber schwer belehrungsbedürftig zu halten.

Über diesen quälenden Nachmittagen in Stadt(teil)bibliotheken hängen typischerweise Titel wie „Das Krokodil beim Zahnarzt“ oder „Kasper und die Ampelsünder“. Brrr! Schlimm genug, wenn Sohn oder Tochter das sogar gefällt. Noch schlimmer: Allzu viele Eltern wünschen sich für ihren Nachwuchs nichts als Harmlosigkeiten und sind mit diesem Theater tatsächlich zufrieden.

Es ist unwahrscheinlich, dass allzu viele Theaterkritiker solche ermüdenden Erlebnisse kennen. Wohl eher ist ihr vermeintlich logisches, in Wahrheit aber beschränktes Denken verantwortlich für die Hartnäckigkeit, mit der Theater für Kinder und Jugendliche immer wieder auf journalistischen Nebengleisen landet, jeder theatrale Pups für die Großen jedoch säuberlich dokumentiert wird. Dabei setzt gerade Theater für die Jüngsten oftmals aufregende Fantasien ein und frei – international, mit vergleichsweise sparsamen, doch vielfältigen Mitteln. Das Amsterdamer „Speeltheater“ wäre hier zu nennen, bei dem der Kater „Nero Corleone“ eigentlich eine Socke ist, das Erfurter Theater Waidspeicher mit dem musikalischen „Fräulein Tong-Tong“ oder der Puppenspieler Stefan Wey, der mit dem Schatten des „standhaften Zinnsoldaten“ eine Zeltwand belebt. Agnès Limbos von der Brüsseler „Compagnie Gare Centrale“ erschafft ihre „Kleinen Geschichten“ lediglich mit Sand, ein paar Plastikfigürchen und -bäumen sowie einer umwerfend kraftvollen Spiellust, die sie augenblicklich durch alle namhaften Festivals führt. Oder Patricia O’Donovan-Lockard aus Jerusalem, deren Geschichte über Louis Braille, den Erfinder der Blindenschrift, 1997 in Berlin zu sehen war: Auch sie brauchte für „Nekudator“ nicht mehr als Sand, Papierfiguren, Bleistifte, dazu ihre wunderbare Erzähl-und Singstimme und die Hilfe von Licht und Schatten.

Wenige Erlebnisse im Theater sind vergleichbar unvergesslich – nicht nur für Fünfjährige. Doch der kluge Kulturarbeiterkopf denkt sich das Kinder- und Jugendtheater so klein wie dessen Adressaten und schließt daraus: Man wird wohl kaum Kunst zu bieten haben. Oder wie der Kindertheater-erfahrene Schriftsteller Peter Ensikat 1992 polemisierte: „Kunst fängt oft erst da an, wo die Kinder aufhören zuzuhören.“

So pauschal, so falsch. Aus den Sechzigerjahren, als die antiautoritäre Schule um das Berliner Grips-Theater und die Rote Grütze den Nachwuchs als Quell des gesellschaftlichen Aufbruchs entdeckte und das Kindertheater zum Spielfeld der Soziologen wurde, hat zumindest eine Überzeugung überlebt: Kinder und Jugendliche sind ernst zu nehmen. Und zwar nicht als dümmliche Miniversion der Erwachsenen. Heute glaubt man auch: Kinder und Jugendliche können schon was aushalten. Die ketzerische Frage, ob sie auch genau das aushalten, was sie geboten kriegen, die muss wohl irgendwann anrüchig geworden sein.

Als ich vor drei Jahren beim deutschen Kinder- und Jugendtheaterfestival in Berlin als eine „Stimme der Kritik“ zu Wort gebeten wurde, riet mir Christel Hoffmann vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum, ebendiese Frage nicht zu stellen. Aber sie muss diskutierbar sein. Weil die Antwort darauf ein wichtiger Schlüssel zu dem jeweiligen Kinder-Bild ist, das einer jeden Arbeit zugrunde liegt.

Eigentlich sind Kinder- und Jugendtheatermacher ein diskussionsfreudiges Völkchen. Kaum eines der jährlich zahlreicher werdenden Festivals kommt ohne Symposien, Ensemble-Gespräche und Workshops aus. Das liegt auch daran, dass das Zielgruppentheater per definitionem von seinen pädagogischen Pflichten nicht loskommt. Auch wenn das Selbstverständnis – und daraus folgend die ästhetischen Entwürfe – der vielen professionellen freien Gruppen und der eher dünn gesäten städtischen Kindertheater oft sehr weit auseinander liegen. Eines jedoch gilt für alle, egal ob die Künstler auf poetisches Traumtheater, Klassiker, soziale Spreng-Stoffe, Märchenadaptionen oder Sprachexperimente abonniert sind: Kindertheater muss mit Geschichten und Ideen sein Publikum direkt fesseln. Falsche Höflichkeit gibt es hier keine. Je ästhetisch avancierter das Theater, umso wichtiger ist jedoch eine Hilfestellung. Weshalb an allen größeren Häusern heute die vorbereitende und begleitende Theaterpädagogik ihren festen Platz hat.

Das sozialarbeiterisch grundierte Mut- und Mitmachtheater ist dabei in den letzten Jahren vor allem im deutschen Osten in ein umfassenderes Konzept vom Theater als Anlauf- und Aktionszentrum eingeflossen. Das „Weite Theater“ im Berliner Plattenbauviertel Hellersdorf ist das prominenteste Beispiel für dieses kompensatorisch angelegte Kulturkonzept: Wo eine Gesellschaft sich nicht um ihren Nachwuchs kümmern mag und angesichts sozialer Probleme die Hände in den Taschen vergräbt, kann die Kunst sich als nützlich erweisen.

1993 hat der damalige Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums der Bundesrepublik Deutschland, Wolfgang Schneider, ein Buch zum Thema „Theater und Jugendschutz“ herausgegeben. Darin ist der schöne Begriff vom „Theater als Lebenskompetenzförderung“ zu finden, der auf die tänzerisch leichten Zirkus-Atmosphärenmaler der italienischen Cooperativa Quelli di Grock ebenso passt wie auf ein neorealistisches Kammerspiel mit hartem Sex auf Drogen.

Konträr zum unausrottbar weltfremd glitzernden Weihnachtsmärchen, das Stadt- undStaatstheater alle Jahre wieder den Abonnentenzöglingen vor die Füße werfen, finden in das Spezialtheater für Kinder auch die dunklen Kräfte Einlass: Ausländerhass, prügelnde Eltern und sterbende Freunde, Einsamkeit und Krieg. Ad de Bonts Stück „Mirad, ein Junge aus Bosnien“ wurde seit 1993 europaweit an mehr als siebzig Theatern nachgespielt. Und den baden-württembergischen Kinder- und Jugendtheaterpreis mussten sich vergangene Woche gleich drei „Stücke aus dem beschädigten Leben“ teilen, wie es bei der Preisverleihung in Stuttgart treffend hieß: Christian Martin bekam ein Drittel für sein Kriegsdrama „Sternfels“, Anna Langhoff für ihr krisengesättigtes „Unsterblich und reich“ und das letzte Drittel ging an Katharina Schlenkers „Plumpsack“, das die heile Familien- in eine horrorfilmmäßige Albtraumwelt überführt. Sehr wahrscheinlich werden die mit der Uraufführung betrauten Theater Formen der Umsetzung finden, in der die beschriebenen Beschädigungen nicht aufs Publikum übergreifen. „Wer es bei kulturpessimistischen Diagnosen belassen will“, sagte Dagmar Schmidt von derMünchner Schauburg erst kürzlich bei einem Gespräch, „der sollte besser aufhören für Kinder zu arbeiten.“

An der Schauburg hat Peer Boysen das „Dossier: Ronald Akkerman“ inszeniert. Ronald ist schwul und an Aids gestorben. Nach der Beerdigung erscheint er seiner Krankenschwester – zu einem letzten Streit. Die beiden Schauspieler lassen ihre Sätze fast hastig und gleichsam nebenbei fallen, während sie im Theatercafé das Publikum bewirten: Eine ganz unsentimentale Arbeit über den Tod, in dem die Liebe zum Leben (und zueinander) am Ende doch durch jede beiläufige Geste blitzt.

Auf irgendeine Weise hat gutes Kindertheater, wie vielleicht gutes Theater überhaupt, immer mit Liebe zu tun, ist „Mensch-zu-Mensch-Beatmung“, wie Wolfgang Schneider einmal schrieb. Das Freiburger Theater im Marienbad erzählt in „Perô oder die Geheimnisse der Nacht“ vom Liebeskummer des kleinen Perô, der eine Puppe ist. Doch die Zärtlichkeit, die der Puppenspieler als Schauspieler seiner Figur entgegenbringt, lässt deren Kummer nie wirklich schwarz werden. Gibt es so etwas wie weißen Kummer? Einen, bei dem man bereits sieht, dass er vergänglich ist? Dann ist es seine Präsenz auf dem Theater, die die „Lebenskompetenz“ befeuert. Auch beim deutsch-niederländischen Ensemble mini art, das auf dem Gelände der Psychiatrie von Bedburg-Hau zu Hause ist. Ihr Stück „Wer auf dem Kopf geht, hat den Himmel unter sich“ bringt einen tollpatschigen alten Mann mit einer strengen Frau zusammen, die misshandelte und „aus der Welt gefallene“ Kinder sammelt. Dieses fantastisch-versponnene Stück über die Verlorenheit endet mit einem gemeinsamen Tanz der beiden, die eigentlich Vater und Tochter sind. Und mit dem Appell, einander da zu suchen, wo man ist, und nicht dort, wo man den anderen gerne haben möchte. „Wer auf dem Kopf geht“ ist auch ein Beispiel für das, was in den letzten Jahren so gerne „Theater der Generationen“ genannt wird, „Theater für Menschen“ oder „für alle“. Ganz als ob die oft belächelte Zielgruppenfixiertheit des Kinder- und Jugendtheaters den Machern selbst nicht mehr geheuer ist. Beim eben zu Ende gegangenen 2. internationalen und 8. baden-württembergischen Kinder und Jugendtheaterfestival in Stuttgart beschäftigte sich ein Symposium mit unserer „Zeit ohne Generationen“ und der notwendig werdenden Orientierung des Theaters an den Bedürfnissen der so genannten „Netkids“. Dieser Begriff beinhaltet aber schon die Antithese zum generationenlosen Theater, denn zumindest eine Verständniskluft zwischen jung und älter scheint es ja noch zu geben.

Man kann es aber auch viel einfacher machen und sagen: Gutes Theater ist einfach gutes Theater. Süßholzraspeln und große Aufklärungsgesten nerven gänzlich altersunabhängig. Traurig nur, dass die meisten lebenslänglich kaum gutes Theater zu sehen bekommen. Festivals können da manchmal Abhilfe schaffen. So hat etwa das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg zu seinem hundertjährigen Jubiläum von April bis Juli „100 x Theater für Kinder und Jugendliche“ gezeigt. Für kulturärmere Städte und Regionen dringend zur Nachahmung empfohlen!

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