piwik no script img

Affekt und Tradition

Die Sinn stiftenden Instanzen wie Nation, Kirche und Klasse scheinen passé. Zeit für die Klassiker: Karl Marx und Ferdinand Tönnies als Inspirationvon HANS-PETER BARTELS

Der Film zeigt schwitzende Proletarier, die nach der Arbeit duschen müssen. Er zeigt tanzende und singende Arbeiter, die mit Großfamilie, Kollegen und Nachbarn ein mitreißendes Hochzeitsfest feiern. Er zeigt wehrpflichtige Söhne der Arbeiterklasse, die in einen furchtbaren Krieg gezogen werden. Diese Kinogeschichte könnte 1917 spielen oder 1943 oder 1972. Es ist Michael Ciminos Vietnamstory „Die durch die Hölle gehen“ – ein Blick zurück in eine versunkene, fast schon vergessene Welt.

Heute sind alle Bilder anders. Computerarbeit ist geruchsneutral, Familienfeste gelten als spießig, und unsere Kriege werden aus großer Höhe geführt. So sieht der Fortschritt aus, nicht nur im Kino.

Haben wir also gewonnen? Wir lassen den giftigen Industrialismus, die stressige Massengesellschaft hinter uns und surfen – den Kapitalismus nehmen wir mit – hinüber in die saubere, individualisierte Informations- und Dienstleistungsgesellschaft: „Can I help you? You are welcome!“ Die große Erzählung des 21. Jahrhunderts beginnt.

Begonnen hat vor allem die Umwertung aller Werte. All die alten Sinngeber müssen als unmodern entlarvt und lächerlich gemacht werden: Nation und Staat, Religion und Kirche, Sorge und Familie, Klasse und Gewerkschaft, Weltanschauung und Partei. Was bleiben darf, sind freie einzelne Menschen, jung und stark, weltläufig und mobil, egoistisch und flexibel. Wir sollen lernen, dass der freien Wirtschaft der gleiche moralische Überbau im Wege steht wie der freien Liebe: weg damit! Wir sollen uns nicht binden wollen, antiautoritär leben, antiinstitutionell denken, uns selbst genug sein. Indem wir glauben, Bindungslosigkeit sei die Voraussetzung für ein wahrhaft selbst bestimmtes Leben, machen wir uns, radikaler als jede vorherige Generation, abhängig von den Konjunkturen der Marktgesellschaft. Bequem ist das nicht: Die Autonomie im automatisierten Dienstleistungszeitalter heißt oft: Mach’s dir doch selbst!

Die Trendjournalisten, die interessierten Unternehmer, Politiker und Wissenschaftler greifen nicht zu hoch, wenn sie einen „Epochenwechsel“ bejubeln. Mit der „digitalen Revolution“, der Veränderung der ökonomischen Grundlage, zieht eine neue Zeit herauf, eine neue Gesellschaft bricht sich Bahn.

Da ist es nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass in neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen plötzlich alte Namen auftauchen. Ulrich Beck und Richard Sennett bemühen zur Deutung der Gegenwart nicht nur ihre eigenen transmodernen Erkenntnisse, sondern auch wieder die deutschen Klassiker Karl Marx und Ferdinand Tönnies (Die Zeit, 6. April 2000) – wohl weil diese beiden Orientierung zu geben suchten in sozialen Umbrüchen, die hundert, hundertfünfzig Jahre zurückliegen. Denn je mehr Sicherheiten in Frage gestellt sind, desto drängender wird der Wunsch nach Gewissheit. Was bleibt?

Was bleibt, wäre vielleicht der Glaube an die unerbittliche Dialektik von Basis und Überbau. Marx schrieb 1859 im Vorwort zu seiner Kritik der politischen Ökonomie: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. (...) Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“

Oder schon 1848 (gemeinsam mit Friedrich Engels) im Manifest der Kommunistischen Partei: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“

Dass diese Verehrung für Bewegung und Beschleunigung auch anderthalb Jahrhunderte später noch als aktuelles radikalliberales Deregulierermanifest zu lesen ist, zeigt: Festes und Altehrwürdiges, Stehendes und Heiliges sind hartnäckiger und erneuerungsfähiger, als Marx glaubte. Denn das Widerständige, das Langsame, das sich nicht Ändernde, der feste Halt – das sind menschliche Lebensnotwendigkeiten. Das bleibt.

Orientierung gibt hier Ferdinand Tönnies mit seinem Begriffspaar „Gemeinschaft und Gesellschaft“. „Gemeinschaft“ als Typ menschlicher Verbundenheit beruht auf affektueller, „gefühlter“ oder auf traditioneller, gewohnheitsmäßiger Zusammengehörigkeit der Beteiligten. Eine solche Gemeinschaft stellt etwa die Familie dar, die religiöse Gemeinde, die Nachbarschaft, die erotische Beziehung oder auch die kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe. „Gesellschaft“ dagegen bezeichnet einen Typ menschlicher Verbundenheit, der zweckrationales Handeln und planmäßiges Sich-aufeinander-Abstimmen voraussetzt – etwa die GmbH, den Verein oder die Partei. Natürlich kann jede noch so nüchtern und rational geschaffene soziale Beziehung auch gemeinschaftliche Verbundenheit stiften.

Das universelle Menschenbedürfnis nach Gemeinschaft, nach Liebe und Mitleiden, gemeinsamem Tanz und Gesang, nach gemeinschaftlich gefühltem Schicksal, setzt der bindungslosen Flexibilität Grenzen. Gemeinschaft braucht Zeit und Zuverlässigkeit. Wer ständig den Ort oder die Identität wechseln muss, geht jeder Vergemeinschaftung verloren. Aber ohne Lebensgemeinschaften, die Kinder erziehen, ihren Nächsten lieben und zur Not Nachbars Blumen gießen, gibt es auch keine Vergesellschaftungen. „Gemeinschaft“ geht „Gesellschaft“ voraus und liegt ihr zu Grunde. Die störenden Affekte und Traditionen, so sehr sie sich im Laufe der Geschichte wandeln mögen, wären nur überwindbar – um den Preis der menschlichen Existenz selbst.

In dem 1999 sehr erfolgreich gelaufenen Science-Fiction-Film „Matrix“ von Larry und Andy Wachowski ist das Bewusstsein der Menschen endlich vom Körper und von jedem anderen Menschen getrennt. Leben wird nur noch als Computerspiel in ihren Köpfen elektronisch simuliert. Tatsächlich bewegt sich gar nichts mehr. Gegeben wird das Spiel einer Vergangenheit, die angesichts dieser Zukunft eine glückliche gewesen sein wird.

Hinweise:Was bleibt? Der Glaube an die unerbittliche Dialektik von Basis und ÜberbauDas sich nicht Ändernde ist menschliche Lebensnotwendigkeit

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen