: „Cannabis – eine alte Heilpflanze“
Martin Schnelle von der Berliner Gesellschaft für onkologische und immunologische Forschung leitet die derzeit größte medizinische Studie mit Cannabis-Extrakten. In eineinalb Jahren sollen die Ergebnisse der Doppelblindstudie vorliegen
Interview BETTINA RECKTOR
Seit Ende 1999 führt die Berliner Gesellschaft für onkologische und immunologische Forschung eine Studie zur Wirksamkeit von Cannabis-Extrakt bei krebskranken PatientInnen durch. Zwölf renommierte onkologische Zentren, darunter die Berliner Charité, nehmen an dieser weltweit einzigartigen Untersuchung teil. Dr. Martin Schnelle ist einer der drei Forschungsleiter.
taz: Welche Idee führte ursprünglich zu dem Forschungsvorhaben?
Martin Schnelle: Allgemeiner betrachtet, war es das Wissen darum, dass Cannabis nicht nur eine Droge, sondern auch eine alte Heilpflanze ist, die über Jahrhunderte und Jahrtausende im Gebrauch war, dann aber durch eine eher propagandistische Drogenpolitik mehr oder weniger verteufelt wurde. Es ging also darum, diese alte Heilpflanze zu rehabilitieren. Konkret inspiriert wurde das Vorhaben auch dadurch, dass der damalige Institutsleiter Dr. Robert Gorter Anfang der 90er-Jahre in den USA an Studien zur Zulassung von Marinol, einem synthetischem THC, teilnahm. THC heißt Tetrahydrocannabinol und ist der psychoaktiv wirksamste und therapeutisch interessanteste Cannabis-Inhaltsstoff, der erst 1964 entdeckt und isoliert werden konnte; er ist seit 1986 in den USA als Medikament für Erbrechen infolge von Chemotherapie bei Krebskranken und seit 1991 für Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei Aids-Patienten zugelassen. Ich denke, dass es vor allem politisch motiviert war, THC zu synthetisieren, damit man mit der verfemten Pflanze nicht in Berührung zu kommen brauchte.
Warum vermuten Sie eine bessere Wirksamkeit der Gesamtpflanze Cannabis gegenüber isoliertem THC?
Viele Aids-Patienten in den USA, die sowohl Marinol als auch Cannabis, also Pflanze oder Droge, kannten, beschrieben immer wieder, dass die Pflanze besser verträglich sei und auch besser wirken würde. In unserer Studie untersuchen wir deshalb einen Gesamtpflanzenextrakt aus Cannabis. Dazu werden die Blüten, Blätter und Stengel der Pflanze zerkleinert, zerstampft und dann mit Alkohol extrahiert. Und man weiß, dass dieser alkoholische Auszug ein sehr großes Spektrum an Inhaltsstoffen aus diesen Pflanzenteilen herauszieht. Dieser Extrakt wird dann so weiterverarbeitet, dass er in eine Weichgelatinekapsel gebracht und so von den Patienten oral eingenommen werden kann.
Welcher speziellen Frage gehen Sie in Ihrer Untersuchung nach?
Die Fragestellung ist, ob in der Behandlung von Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei Krebspatienten Cannabis-Extrakt mindestens ebenso gut wirkt wie isoliertes THC. Der Cannabis-Extrakt könnte sogar besser wirken als der isolierte Einzelstoff, weil andere wirksame Cannabis-Inhaltsstoffe, die Cannabinoide, die Wirkung des THC unterstützen und auch Nebenwirkungen von THC verringern könnten. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass Cannabidiol, das zweitwichtigste Cannabinoid, die Rauschwirkung von THC abdämpft und insofern für eine bessere Verträglichkeit sorgen könnte.
Welcher Personenkreis wird in die Studie eingeschlossen?
Es sind ausschließlich Krebspatienten mit fortgeschrittener Erkrankung, für die zwar keine Aussicht auf vollständige Heilung mehr besteht, deren Lebensqualität aber entscheidend verbessert werden kann und für die eine Verlangsamung des Gewichtsverlusts unter Umständen auch eine Verlängerung der Überlebenszeit bringt. Es ist für diese Patienten entscheidend, den Teufelskreis von Krankheitsfortschritt, daraus resultierender Verschlechterung der Lebensqualität und wiederum auf den weiteren Krankheitsfortschritt zurückwirkenden Depressionen zu durchbrechen. Für manche Patienten sind ständige Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen sogar gravierendere Beschwerden als Schmerzen; diese andauernde Qual vergiftet oft den letzten Lebensmut und schwächt den seelisch-geistigen Widerstand gegen die Erkrankung.
Wie viel des Cannabis-Extrakts bekommen die PatientInnen?
Der Gesamtpflanzenextrakt ist auf den THC-Gehalt standardisiert. Eine Kapsel enthält Extrakt von 2,5 Milligramm THC, und pro Tag werden zwei Kapseln, also 5 Milligramm THC, eingenommen. Das ist eine eher geringe Dosis, die bei etwa der Hälfte bis einem Drittel der Dosis liegt, die man zu Rauschzwecken konsumiert. Das heißt, die Dosis liegt deutlich unter der psychotropen Schwelle.
Welche Effekte werden bei den PatientInnen untersucht?
Der Hauptzielparameter ist der Appetit. Der Patient macht jeden Tag zur gleichen Zeit, das heißt eine Stunde vor dem Mittagessen, auf einer visuellen Analogskala, die von „kein Appetit“ bis „bestmöglicher Appetit“ reicht, einen Strich für das Ausmaß seines Appetits. Man untersucht also, ob der Appetit-Score in der Cannabis-Gruppe besser ist als in der Placebo-Gruppe. Ferner untersuchen wir die übelkeitshemmende und stimmungsaufhellende Wirkung von Cannabis und dann auch den Effekt auf das Körpergewicht.
Was berichten die PatientenInnen über die Wirkungen des Extrakts?
Die ersten Erfahrungen der Prüfärzte an den onkologischen Zentren besagen, dass sich der Appetit bei den meisten Patienten verbessert, dass die Übelkeit nachlässt und sich depressive Verstimmungen, die durch die Grunderkrankung bedingt sind, verbessern. Wir können das aber erst als Trend erkennen und noch nicht sagen, bei wie vielen Patienten das so ist, weil es eine placebokontrollierte Doppelblindstudie ist und eine Auswertung erst in etwa eineinhalb Jahren erfolgt.
Welche Konsequenzen hätte es, wenn sich im Rahmen Ihrer Forschung herausstellte, dass Cannabis-Extrakt isoliertem THC überlegen ist?
Allein eine Gleichwertigkeit mit isoliertem THC wäre interessant genug, weil dann auch ein wirtschaftlicher Aspekt zum Tragen käme. Ein Cannabis-Extrakt wäre sicher deutlich kostengünstiger anzubieten als das derzeit noch sehr teure Marinol. Weil es aus den USA importiert werden muss, ist der Preis in Deutschland extrem hoch. Das heißt, die monatlichen Behandlungskosten liegen bei 3.000 bis 4.000 Mark. Marinol ist damit etwa fünfzigmal teurer als Cannabis auf dem Schwarzmarkt. Ich habe von Patienten gehört, die so verzweifelt sind, dass sie Marinol selbst bezahlen. Für ein aus dem Ausland importiertes Medikament besteht in Deutschland nämlich keine Erstattungspflicht. Hier kann vielleicht ein seit kurzem in Deutschland hergestelltes Dronabinol-Präparat Abhilfe schaffen. Es kostet etwa ein Drittel von Marinol, aber immer noch ein Mehrfaches des Schwarzmarktpreises, und sollte von den Kassen übernommen werden.
Eine Überlegenheit des Extrakts im Bereich der Verträglichkeit ist natürlich ebenfalls wünschenswert. Auch das Gesundheitsministerium sieht, dass mittelfristig ein Cannabis-Extrakt verfügbar sein sollte, was natürlich eine schöne Aussicht für unsere Studie ist. Und wenn die Studie interessante Ergebnisse bringt, stellt sich die Frage, durch welche pharmazeutische Firma so ein Präparat eventuell zur Zulassung gebracht und dann auch vermarktet werden könnte. Das Interesse der pharmazeutischen Industrie hält sich bisher aber noch sehr in Grenzen. Soweit wir wissen, gibt es bislang weltweit keine weitere Studie, die einen Cannabis-Extrakt in dieser Dimension erforscht.
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