: Allergisch auf die Welt
Erst kamen die Schränke – und dann die Multiple Chemical Sensitivity ■ Von Sandra Wilsdorf
Er besucht keine Freunde mehr, geht kaum ins Theater, kaum ins Kino. Busfahren ist eine Qual, mit seinen Nachbarn hat er Streit, seine Ehe ist belastet: „Ich bin so mit meiner Geschichte beschäftigt.“ Diese Geschichte von Manfred Flor beginnt 1988 und stand damals in vielen Zeitungen: Formaldehyd im Kreiswehrersatzamt Sophienterrasse. MitarbeiterInnen klagen über Schwindel, Kopfschmerzen, Durchfall. Mit neuen Schränken kommen die Krankheiten, die etwa ein Sechstel der Beschäftigen tage- bis monatelang in den Krankenstand schicken.
Für Manfred Flor ist das alles andere als Vergangenheit. Er leidet heute unter Multiple Chemical Sensitivity (MCS), einer in Deutschland noch nicht als Krankheit anerkannten Allergie auf chemische Substanzen. Wenn jemand in seiner Nähe raucht, Parfüm aufgelegt oder die Wäsche der Kinder mit sauber riechendem Waschmittel gewaschen hat, wenn Flor in die Nähe von Putzmitteln kommt oder auf konventionell lackierten Möbeln sitzen muss, zieht sich sein Kopf zusammen. „Dann muss ich raus, sonst kommt der bohrende Schmerz.“ Die Migräne, die ihn ins Bett zwingt.
Seit 12 Jahren leidet Flor und fast genauso lange kämpft er darum, dass seine Krankheit als Berufskrankheit anerkannt wird. „Ich will, dass jemand zugibt, dass mein Beruf mich krank gemacht hat.“ Dass der Kontakt mit Formaldehyd der Auslöser für MCS war, die sich auf immer mehr chemische Substanzen ausdehnt. Aber während MCS in den USA längst als Krankheit anerkannt ist, streiten sich hier Experten darüber, was eher kam: die Allergie oder die Probleme. Für viele ist es eher eine psychische Krankheit, in jedem Fall aber ist sie schwer nachweisbar.
Flor war nie gegen irgend etwas allergisch. Doch „eines Morgens hatte ich am ganzen Körper juckende rote Pusteln“. Nesselfieber. Die Akten aus den neuen Schränken haben ihn krank gemacht, so wie mehr als 30 seiner Kollegen. Aber es dauert, bis das herauskommt. Denn jeder hat andere Symptome – und einen anderen Arzt.
Irgendwann jedoch erlässt die Bundeswehr eine Verfügung: „Wer durch die Schadstoffbelastung gesundheitliche Beeinträchtigungen erfahren hat und befürchtet, dass Spät-/folgeschäden nicht ausgeschlossen sind, muss sich zur Sicherung eventuell späterer Ansprüche in ärztliche Behandlung begeben.“ Für Flor ist das der Beginn einer Odyssee, die bis heute dauert: Im Bundeswehrkrankenhaus wird ihm eine Formaldehyd-Allergie bestätigt. Er muss sein Büro sofort verlassen und wird ins Archiv auf der anderen Straßenseite versetzt. „Da war es muffig, mein Gesicht brannte, ich hatte ständig Kopfschmerzen und Durchfall.“ In wieder einem anderen Büro sitzen ihm Raucher gegenüber, in noch einem anderen lagern Farben nebenan. „Ich dachte, mein Kopf zerspringt.“ So geht es immer weiter. Zwischen 1989 und 1995 ist Flor drei Jahre lang krankgeschrieben.
Zwischendurch versucht er es mit einem eigenen Büro, das er sich mit alten unlackierten Holzmöbeln einrichtet. Das geht so lange gut, bis ein neuer Dienststellenleiter kommt und Flors Einzellösung unnötig findet. Flor ist inzwischen Vater geworden und nimmt Erziehungsurlaub. Nach 15 Monaten will er auf eine Halbtagsstelle zurück zur Bundeswehr. Nach vier Stunden kommt die Migräne. Der Betriebsarzt der Standortverwaltung stellt fest: „Vielfältige zusätzliche Sensibilisierungen und gesundheitliche Einschränkungen würden vermutlich zu immer wieder neuen Arbeitsausfällen führen, mit der Gefahr der weiteren gesundheitlichen Schädigung.“ Der Arzt empfiehlt einen Arbeitsplatz ohne Publikumsverkehr und ohne Chemie. Es folgt der Personalarzt. Der erklärt: „Ursächlich für die Erkrankung ist die seit 1988 bekannte Schadstoff-Allergie, die durch spezifische Schadstoffexposition am Arbeitsplatz hervorgerufen wurde.“ Die Bundeswehr hat keinen chemiefreien Arbeitsplatz. Flor reicht die Rente ein. Er ist 42 Jahre alt.
Der Arzt der Bundesversicherungsanstalt für Arbeit hält ihn für arbeitsfähig, sieht vielmehr „eine depressive Fehlentwicklung und ängstliches Vermeidungsverhalten“. Angstneurose, „weil ich die Frage, ob ich oft ins Kino gehe, verneint habe und weil ich nicht mit dem Fahrstuhl in seine Praxis gefahren war“. Der Antrag auf Rente wird abgelehnt. Flor legt Widerspruch ein und bekommt Rente auf Zeit: Vom 1. Oktober 1998 bis zum 30. September 2001. Dann wird neu untersucht und entschieden. Für Edgar Jhering von der Verwaltung der Bundeswehr ist der Fall offenbar Geschichte: „Das Gebäude wurde damals als vorbeugende Maßnahme aufwendig renoviert. Wer heute noch über die alten Akten klagt, leidet unter Befindlichkeiten, die sich wissenschaftlich nicht begründen lassen.“
Flor nimmt Vitamine, Zink, Selen und hat sein Haus mit verträglichen Materialien ausgestattet – auf eigene Kosten. Er hat sich einen tragbaren Luftfilter gekauft, „weil meine Frau doch mal ins Kino will“. Aber der hilft nicht gegen Parfüm. „Ich unternehme fast nichts, denn ich weiß nie, wie es bei den Leuten ist.“ Daran sind Freundschaften zerbrochen.
Dass MCS in die Isolation treibt, bestätigt auch Jürgen Ohlert. Der leidet ebenfalls unter MCS und ist wie Flor im Arbeitskreis „Das gute Krankenhaus“. „Die Krankheit geht bei vielen mit massiver Verelendung einher“, sagt Ohlert und glaubt deshalb, dass es viel mehr als die geschätzten 1200 MCS-Kranken in Hamburg gibt. Für diese will der Arbeitskreis erreichen, dass beim Neubau des Krankenhauses Barmbek eine Umweltklinik eingerichtet wird. „Bisher können Umweltpatienten in Hamburg nirgendwo stationär behandelt werden.“ Die Projektleitung hat auf das Postitionspapier noch nicht geantwortet.
Neulich ist Manfred Flor übrigens etwas Komisches passiert: „Ich habe zum ersten Mal Heuschnupfen und werde dafür total bedauert.“ Dabei sei das doch gar nichts gegen den Rest. „Aber unter Heuschnupfen können sich die Leute wohl etwas vorstellen.“
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