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Verkörperungen

DIE NEUEN UTOPIEN (7): Es reicht nicht, die Welt als Wille und Markt zu sehen. Solche Einschränkungen verleugnen die Sehnsüchte in der Demokratie nach Gemeinsamkeit

Man sage nicht, dass niemand mehr Utopien zu formulieren wage. Die neueste Erlösungshoffnung, die von Cyberfans all over the world beschworen wird, besteht aus einem erdumspannenden Gemeinschaftskörper, der das gesamte Wissen der Menschheit bündelt und mit Nervenbahnen aus Computerverbindungen alle Probleme von Demokratie & Co. zu lösen weiß.

Dass sich Menschen zu einem homogenen, konfliktlosen Gemeinschaftskörper formieren, das allerdings ist eine uralte utopische Metapher quer durch alle möglichen und unmöglichen Gesellschaften hindurch. Solange ihr Führer Abdullah Öcalan in Haft sei, formulierte vor ein paar Monaten eine kurdische PKK-Anhängerin gegenüber der taz, „sind wir alle im Gefängnis. Er ist alles, ist unser Körper.“

Auch die abendländische Geschichte quillt über von derlei symbolischen Verkörperungen. Ihre ursprünglichsten Ursprünge liegen mutmaßlicherweise in der dunklen menschlichen Vergangenheit des Kannibalismus und der Opferrituale. Um sich selbst zu retten, warfen unsere Vorfahren den sie verfolgenden Raubtieren ein Opfer zum Fraße vor. Die Gestalt des Sündenbocks entstand, der, stellvertretend für alle geschlachtet, zum Opferlamm wurde. Später wurde daraus Jesus. Er opferte seinen Leib, um den imaginären Leib der Christenheit zu retten, um sie von ihren Sünden zu erlösen: Einer für alle, alle für einen. Manche wenden sich hier mit Grausen ab: Was sind das nur für Fromme, die Liebe predigen, aber ihren „Bräutigam“, ans Kreuz genagelt, übers Bett hängen und beim Abendmahl seinen Leib verspeisen und sein Blut schlürfen?

Alle Religionen sind Erklärungsversuche um die Mysterien von Geburt und Tod, sind unendliche Geschichten von Verkörperungen und Entkörperungen. Nicht wenige religiöse Führer haben ihren Mitgliedern die Fleischeslust verboten, damit alle Sehnsucht gen Himmel strebe. Die mit eisernem Besen von allem Weiblichen gereinigte christliche Kirche spezialisierte sich auf Ersatzbauten, die Sehnsuchtsströme kanalisieren sollten, indem sie der weiblichen Anatomie nachempfunden waren: vulvisch gestaltete Eingangstore, nasse Taufbecken, geräumige Kirchenschiffe.

Jahrhundertelang war es vor allem die Kirche, die da Frauenschoß, Mutterleib und Heimeligkeit verkörperte, später war es die Nation. Mit der Bildung der modernen Nationalstaaten vor ungefähr 200 Jahren entstand auch die kollektive Vorstellung von einem „Volkskörper“, ausgestattet mit allem, was neuzeitliches Wissen um Anatomie und Hygiene so hergab: Muskeln, Nerven, Blut. In Körperbegriffen zu denken liegt für Wesen, die nicht ohne Leib leben können, nahe. Gefährlich wird es erst, wenn die Abgrenzung zum Körper der „Anderen“ – klassischerweise von Frauen, Juden, Ausländern – scharf und schärfer betrieben wird. Wir wissen, wo die Massenfantasien von „herauszuschneidenden Krebsgeschwüren“ und „Blut saugenden Parasiten am Volkskörper“ endeten: in den Gaskammern der Nazis.

Leider haben westliche PhilosophInnen und WissenschaftlerInnen bis auf wenige rühmliche Ausnahmen keine Aufmerksamkeit auf diese Phänomene verschwendet. Wo das Individuum als Maß, Ausgangs- und Endpunkt aller Dinge gilt, da ist kein Verständnis, ja noch nicht einmal eine Begrifflichkeit vorhanden für die Dialektik zwischen realen und symbolischen Körpern, Volk und Führern, zwischen Masse und Macht. Einer der wichtigsten Vordenker der Neuzeit, René Descartes,war nicht zufällig einer der größten Solipsisten unter der Sonne – „Ich denke, also bin ich“ – und damit der größte Verleugner menschlicher Beziehungsgeflechte. Zeit seines Lebens leugnete Descartes, in anderen Werken gelesen und von Vordenkern gelernt zu haben, nein, all seine Ideen seien allein seinem genialen Haupte entsprungen. Von ihrem Anbeginn in der griechischen Antike, seit Athene dem Kopf ihres Gottvaters Zeus entsprang, war die abendländische Philosophie eine Philosophie der Kopfgeburten. Von Körpern und ihren Sehnsüchten weiß sie nicht viel, es gibt bis heute keine Lehrstühle für Symbolismus und Fleischwerdung, ja noch nicht einmal einen Namen für eine solche Wissenschaft.

Ergo haben sich die gängigen westlichen Staatsideen eben hinter dem Rücken der Menschen voll gesogen mit Beziehungsbildern und Körpersymbolik. Schon die Begriffe verraten es: Staatsorgane oder Körperschaften des öffentlichen Rechts. Staat ist, wenn in der Fantasie seiner Mitglieder alle Körper zu einem verschmelzen, wenn die Regierung zu seinem Oberhaupt wird, die Beamten zu seinen Organen, Armee und Polizei zu seinem bewaffneten Arm.

Das Parlament aber will sich im Wortsinne nicht organisch in dieses wehrhafte Bild einfügen. Es ist nicht Haupt, es ist nicht Herz, es stört nur. Die gewählten Abgeordneten sind Repräsentanten der WählerInnen, sie erinnern an die Friktionen in der Gesellschaft und zerstören die Fantasie vom einheitlichen Riesenkörper. Ihnen, und damit der Idee von der Repräsentanz der Vielfalt, galt nicht zufällig der besondere Hass der Nazis. Die „Schwatzbude“ Parlament und ihre Parteien wurden als Erste liquidiert, es folgten die „Parasiten“ und „Volksschädlinge“. Auch heute noch gehört Antiparlamentarismus zum Standardrepertoire rechtsextremer und populistischer IdeologInnen.

Kollektivfantasien können brandgefährlich werden. Auch deshalb, weil vernunftbetonte Aufklärung hier kein Gegenmittel bietet. Die scheinbar körperlose Form der parlamentarischen Demokratie zeigt sich unfähig, die mächtigen menschlichen Sehnsüchte nach Auflösung im großen Ganzen aufzufangen, die desto heftiger flottieren, je mühsamer und beladener das Leben der Einzelnen ist. Im saturierten Deutschland mag nun wirklich kaum jemand den bodenfesten Machtmann Schröder als Lichtfigur feiern, aber im gebeutelten Russland gilt Putin für ein Millionenheer von Pauperisierten als Erlöser, als Heiland auf Erden.

Gefühlsverbote indes sind nicht durchzusetzen, man kann nur versuchen, Gefühle bewusst zu machen. Die Sehnsucht, Teil eines sinnvollen Ganzen zu sein, ist zudem nichts Despektierliches, sondern höchst menschlich. Das gilt auch und gerade in unseren Zeiten, in denen alle Lebensbereiche monetarisiert und durchökonomisiert werden. Ein Markt ist die leerste Stelle der Welt, wenn Verkäufer und Käufer gegangen sind und ihre obligaten stinkenden Müllberge hinterlassen haben, und die Welt als Holding von lauter kleinen Ich-AGs ist eine so eiskalte Vorstellung, dass sie sogar die Klimakatastrophe aufhalten kann. Das werden noch viele merken, sobald die jetzige Modewelle abgeebbt ist, die Welt als Wille und Markt zu sehen.

Allerdings wird uns auch die neue Utopie des Gemeinschaftskörpers im Cyberspace nicht retten. Sympathisch daran ist dennoch, dass es nicht mehr um den „Volkskörper“ geht, sondern, zumindest vorgeblich, um den „Körper“ der ganzen Menschheit. UTE SCHEUB

Hinweise:Das Parlament will sich im Wortsinne nicht organisch ins Bild einfügen: Es ist nicht Haupt, es ist nicht HerzDie Welt als Holding von Ich-AGs ist eine so eiskalte Vorstellung, dass sie die Klimakatastrophe aufhalten kann

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