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„Eine menschliche Tragödie“

Interview BJÖRN BLASCHKE

 taz: Herr von Sponeck, 17 Monate waren Sie oberster UN-Hilfskoordinator für den Irak. Im Februar sind Sie aus Protest gegen die Sanktionspolitik der UNO zurückgetreten. Warum?

Das, was der Mensch zum physischen Überleben braucht, war im Irak nicht mehr ausreichend vorhanden. Es gab nicht genug Lebensmittel, die Medikamente reichten nicht aus, die Wasserqualität wurde immer schlechter, es gab Abwässerprobleme . . . Wenn man sich dann noch etwas weiter umschaut und sieht, wie es bestellt ist mit dem Bildungssektor, wenn man sieht, dass die jungen Leute absolut ungenügend auf die Zukunft vorbereitet sind, auf ein Leben in der Verantwortung, dass sie überhaupt keine Rollenmodelle haben, dass sie keinen Zugang zu Computern haben oder Büchern oder gar der neuesten Technologie.

Wie sieht es mit der restlichen Bevölkerung aus?

60 bis 75 Prozent der Erwachsenen sind arbeitslos. Der Irak ist in den letzten Jahren zu einer Empfängergesellschaft geworden – man wartet jeden Monat auf den Nahrungsmittelkorb, den man sich nicht selber verdienen kann. All das erlaubt die Behauptung, dass hier eine wirkliche, menschliche Tragödie entstanden ist.

Es gab einmal sehr viele gut ausgebildete Menschen.

Ich glaube, wenn man sich heute das Profil der Entwicklungsländer ansieht, dann ist zwar der Entwicklungsfortschritt in den Ländern Afrikas und Asiens gering, aber es geht nach oben. Irak gehört zu den wenigen Ländern, die sich von einer sehr hohen Ebene sehr schnell auf eine tiefe Ebene begeben haben. Irak war auf jedem Gebiet – ob das nun die medizinische Versorgung, die Bildung oder die Straßeninfrastruktur war – vorbildlich im Mittleren Osten, und all das ist heute weitgehend zurückgesteckt und dem Abbruch nahe.

Kennen Sie Zahlen?

Im Jahr 1989 zum Beispiel hatte Irak ein Bildungsbudget von 2,1 Milliarden Dollar. Zehn Jahre später, 1999, sind davon 229 Millionen Dollar übrig geblieben – für eine viel höhere Zahl von Kindern. Daher immer wieder meine Forderung, dass man jetzt endlich die Wirtschaftsanktionen aufheben sollte – mit allen notwendigen Kontrollen, die im Augenblick nicht existieren.

Über die Brücke von der Türkei in den Irak kommen täglich mehrere hundert Lkws, die Diesel und Öl aus dem Irak herausholen, dafür aber Lebensmittel hineinbringen – damit wird gezielt das Embargo umgangen.

Es ist ein totaler Embargobruch, der von den Amerikanern und den Engländern akzeptiert wird, weil sie dadurch das Recht bekommen, die Luftbasis in Incirlik zu nutzen. Das ist kein Geheimnis, aber ein Beweis dafür, wie inkonsequent alles durchgeführt wird – aber alle daran verdienen.

Die Angaben über embargobedingte Todesfälle gehen weit auseinander – welche Zahlen nennen Sie?

Ich glaube, der beste Bericht ist der von Unicef. Er deutet an, dass im Jahr 1991 von 1.000 Kindern unter fünf Jahren 56 Kinder nicht überlebt haben, und dass die Zahl in den acht Jahren bis 1999 auf 131 Kinder pro 1.000 angestiegen ist – das ist auf die Sanktionen zurückzuführen.

Das Herzstück der humanitären Hilfe ist das so genannte „Öl für Lebensmittel“-Programm, aber es gibt Gerüchte, dass das irakische Regime der Bevölkerung gezielt medizinische Hilfsgüter und Lebensmittel vorenthalte.

Dass tagtäglich im Irak Menschen sterben, weil Medikamente nicht zur Verfügung stehen, kann ich bestätigen – ich habe es selbst gesehen in den Krankenhäusern. Aber die Anklage, die man immer wieder hört, dass die Regierung bewusst Medikamente der Bevölkerung vorenthalte, ist Propaganda. Wir haben seit August letzten Jahres monatlich Berichte angefertigt, aus denen man sehen konnte, was ins Land gekommen ist und was verteilt wurde. Was sich einem da darbietet, ist ein absolut akzeptables Bild. Wir zusammen mit den Sonderorganisationen der UN Zahlen zusammengestellt, dass zum Beispiel für Januar dieses Jahres 91,7 Prozent aller Waren, die im Rahmen des humanitären Programms in den Irak gekommen sind, tatsächlich an die Endnutzer – also Krankenhäuser und, im Falle der Nahrungsmittel, an die Haushalte – gegangen sind. Das ist absolut keine schlechte Zahl.

Wenn man sich dann den Sondersektor ansieht, der so oft von den Amerikanern kritisiert wurde – dass zum Beispiel Medikamente nicht verteilt würden – da ist die Zahl 72 Prozent, das heißt also, 72 Prozent der Medikamente sind verteilt worden. 28 Prozent Verlust klingt, als wenn das eine hohe Zahl sei. Aber die WHO empfiehlt, dass jedes Land, um auf Epidemien vorbereitet zu sein, 25 Prozent der Medikamente lagern soll. Und Irak sagt: „Das können wir uns nicht leisten“ und hat nur 15 Prozent der Medikamente eingelagert. Bleiben noch immer 13 Prozent übrig – und die werden damit erklärt, dass oft Waren minderwertiger Qualität an den Irak verkauft werden.

Welcher Sinn steckt noch hinter dem Embargo?

Nach all dem, was über die Ergebnisse der Sanktionspolitik bekannt ist, komme ich persönlich immer mehr zu der Überzeugung, dass ein geschwächter Saddam Hussein wahrscheinlich das ist, was allem anderem vorzuziehen ist.

Bevor Sie den Irak verließen, haben Sie noch Saddam Hussein getroffen. Das habe den Diktator in seiner Position gegenüber dem Volk gestärkt, behaupten einige.

Wenn man in der Funktion im Irak ist, in der ich dort war – und das Staatsoberhaupt bittet einen zu sich, dann muss man da hin.

Sah die Kommunikation zwischen Ihnen und Ihren Verhandlungspartnern denn sonst besser aus?

Das berufliche Gespräch war seriös, man versuchte eine Lösung zu finden – und wenn man den irakischen Beamten vermittelte, dass man sie als Gegenüber respektierte und ihnen nicht die Würde nahm, die sie ja oft genug verlieren, dann kam auch eine Zusammenarbeit zustande. Das klingt jetzt wahrscheinlich so, als wollte ich Propaganda machen für die irakische Regierung, das will ich aber überhaupt nicht.

Welche Alternativen sehen Sie zur heutigen Irak-Politik der UN? Die Wirtschaftssanktionen aufheben, klar, und dann?

Die Abrüstung muss natürlich fortschreiten. Aber ich glaube, man muss in der Diskussion mit den Irakern sowohl anfangen, Zugeständnisse zu machen, als auch funktionierende Allround-Kontrollen einzuführen. Ich plädiere sehr stark für eine Irak-Konferenz, die hinter verschlossenen Türen stattfinden muss, in deren Verlauf man versucht, alle Parteien an einen Tisch und wieder ins Gespräch zu bekommen. Denn die Engländer und die Amerikaner haben sich ja in den letzten Jahren kategorisch geweigert, mit den Irakern Kontakt zu haben.

Ihr Nachfolger, der Birmese Tan Mingh, hat sich dafür ausgesprochen, dass das „Öl-für-Lebensmittel“-Programm fortgeführt und noch verstärkt werde. Folgen Sie ihm darin?

Was bleibt anderes übrig? Die Menschen müssen leben – und damit muss dieses ungenügende, aber wichtige Programm zur humanitären Unterstützung weiterlaufen, so lange, bis endlich die Grundentscheidung getroffen worden ist, das Embargo aufzuheben.

Sie sind gegangen, Ihr Vorgänger, der Ire Denis Halliday, hatte aus ähnlichen Gründen aufgehört.

Die Leiterin des Welternährungsprogramms, Burkhard, ist ebenfalls zurückgetreten.

Wie „diplomatisch“ muss man denn für diesen Job eigentlich sein?

Kann man es sich leisten – in Anbetracht der Erkenntnisse, die man vor Ort gewinnt –, Diplomat zu sein? Ich glaube nicht.

Zitate:ZUR ZUKUNFT„Die jungen Leute sind absolut nicht vorbereitet“

ZUR IRAKPOLITIK„Man muss Zugeständnisse machen“

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