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Vom Krieg der Kinder

von DOMINIC JOHNSON

Die Jungs meinten es nicht böse. Schließlich war der Mann so reich, er wohnte in einem großen Haus mit vier dicken Autos und Satellitenschüssel, und das in der Hauptstadt des ärmsten Landes der Welt. Einmal waren die Jungs gekommen, um ihn zu fragen, ob sie bei ihm das Fußballspiel Sierra Leone gegen Nigeria angucken könnten. Er sagte nein, und sie gingen wieder. Danach kletterten sie zwar ab und zu nachts über die Mauer und erleichterten sich in seinem Garten. Er reagierte aber nicht, weil die Jungs Gewehre dabei hatten, wie das so ist in einem Bürgerkriegsland. Irgendwann dachten sich die Jungs, der Mann brauche doch sicher nicht alle seine Autos. So gingen sie eines Abends hin und schossen um sich. Dummerweise kam genau in jenem Moment ein Nachbar nach Hause. Es fielen noch mehr Schüsse, und plötzlich war der Nachbar tot. Sein Auto raste außer Kontrolle ins Tor. Und da rückten Blauhelmsoldaten der UNO an und meinten, Frieden schaffen zu müssen.

„Kamaboyz“ riefen die Jungs beim Wegrennen, als der erste UN-Soldat „Wer da?“ in die Nacht brüllte. „Kamaboyz“, die Kama-Jungs, so klärt die sierraleonische Zeitung The Pool in ihrem Bericht über dieses Ereignis auf, sind „Kamajors“, die private Stammesmiliz von Sierra Leones Präsident Ahmed Tejan Kabbah. Sie sollen eigentlich nicht Freetowns reiche Elite terrorisieren. Sie sind Kabbahs Stoßtrupp gegen die Rebellen der RUF (Revolutionäre Vereinigte Front). Aber wenn man sie sich selber überlässt, sind sie einfach Kinder, die auch mal Fußball gucken wollen. Der reiche Mann, der ihnen das nicht gönnte, ist nun weggezogen. Sein Haus wird verfallen.

Kleiner als sein Gewehr

Sierra Leones Krieg ist einer der brutalsten der Welt. Massenvergewaltigungen, Verstümmelungen, Missachtung aller humanitären Normen zeichnen diesen Bürgerkrieg aus, in dem sich seit 1991 die wechselnden Regierungen in Freetown und die Rebellenbewegung RUF gegenüberstehen. Sierra Leones Krieg ist aber auch ein Krieg der Kinder. Es gibt siebenjährige Soldaten, es gibt Kommandanten, die bei einem Friedensschluss aus Altersgründen noch gar kein Wahlrecht hätten. Mindestens ein Viertel der Kämpfer der verschiedenen Gruppen sind Minderjährige.

Die jüngsten Kämpfer sind die treuesten, wissen inzwischen Hilfsorganisationen. Sie sind loyal, sie fragen nicht, sie finden Kämpfen spannend. „Natürlich mögen sie den Lebensstil“, war die Antwort eines Leutnants der Regierungsarmee, als die Behörden ihn aufforderten, jene Kinder aus der Truppe zu entlassen, die fast kleiner waren als ihre blitzblanken neuen Gewehre aus England und mit leuchtenden Augen für britische Pressefotografen posierten. „Es ist britisch. Es ist ein gutes Gewehr. Es schießt richtig“, erklärte stolz der 14-jährige Soldat Abu. Die Briten, die im Mai dieses Jahres die sierraleonischen Regierungstruppen aller Altersgruppen massiv aufrüsteten, waren für ihn lauter Weihnachtsmänner.

Krieg als Abenteuerspielplatz ist natürlich eine Verklärung, eine Fiktion, die nur hält, solange man nicht an der Front steht. Wer in Sierra Leone auf dem Schlachtfeld war, redet darüber anders. Der 14-jährige Kriegsveteran Dennis erzählte den Experten des UN-Kinderhilfswerks Unicef, er habe Herz und Leber seiner Opfer gegessen. Er war zweimal in der RUF – das erste Mal war er entführt, das zweite Mal ging er freiwillig, nachdem die Soldaten der westafrikanischen „Friedenstruppe“ Ecomog in sein Haus eine Granate geworfen hatten, die seine Mutter tötete. Sie war schwanger. Wie erklärt man ihm da, was Frieden ist?

Bob Marley und Fela Kuti

Die meisten gingen nicht freiwillig. „Ich war dabei, meiner Mutter beim Kochen zu helfen“, berichtete die 11-jährige Musu über die Entführung durch die Rebellen aus der Hauptstadt im Januar 1999. „Das Haus war verschlossen, die Rebellen brachen ein. Ein Rebell riss mich von meiner Mutter weg. Draußen waren viele Mädchen. Die Rebellen gingen von Haus zu Haus. Nach vier Tagen kamen wir in den Ocra-Hügeln an. Die Rebellen ruhten sich einen Tag aus, und am sechsten Tag trafen sie unter den Mädchen ihre Wahl. Danach wussten wir nicht mehr, was uns der nächste Tag bringen würde. Wer nicht einem Kommandanten als Frau überlassen wurde, musste mit Haufen von Männern schlafen.“ Wenn solche Opfer in die Gesellschaft zurückkehren, werden sie als „Rebellenhuren“ beschimpft und ausgegrenzt. Viele bleiben daher lieber im Busch. Sierra Leones entführte Mädchen gelten der UNO als die unsichtbaren und unerreichbaren Protagonisten des Krieges.

Dennoch ist dies kein Krieg, der geradewegs aus dem Busch kommt. Freetown war zu Kolonialzeiten ein kosmopolitisches Zentrum, empfänglich wie nur wenige Orte in Afrika für kulturelle Einflüsse aus Europa und den USA. Freetown war schließlich die „Freistadt“, gegründet 1787 zur Ansiedlung freigekaufter Sklaven. Das Selbstverständnis der Stadt war nicht afrikanisch, sondern das der kreolischen Weltkultur. 1915 öffnete in Sierra Leones Hauptstadt Westafrikas erstes Kino, es gab Tanzclubs und später Jazz. Es entstand ein von Seefahrt und Edelsteinhandel geprägtes elitäres Selbstverständnis, aber es wuchs nach der Unabhängigkeit 1961 auch eine einheimische Gegenkultur, die sich am Panafrikanismus orientierte, am Jamaikaner Bob Marley und am Nigerianer Fela Kuti. In den 90er-Jahren, nach dem Zerfall von Wirtschaft und Staat, dienten diese beiden Milieus den Führern der Bürgerkriegsarmeen als Basis.

Die RUF, gegründet von Studenten im libyschen Exil 1989, beschreibt ihren Kampf als Revolte von „entrechteten jungen Männern, die gegen ein Unterdrückungssystem rebellieren“. Die Elite in Freetown schmuggelte jahrzehntelang in großem Maße Diamanten zur eigenen Bereicherung ins Ausland – und wirft dies heute den Rebellen vor. Die eigentliche Volkswirtschaft überließ sie in den 80er-Jahren IWF-Strukturanpassern, die das Bildungssystem ruinierten. „Zu Kriegsbeginn war eine große Zahl von Kindern aus dem Schulsystem herausgefallen“, analysiert der Ethnologe David Keen. „Die Jugend Sierra Leones labte sich an Bildern westlichen Lebensstils und westlicher Macho-Kultur. Dann erhielt sie in Form von Waffen die Mittel, diese Träume von Konsum und Gewalt zu verwirklichen.“

Marodierende Banden

Diese Entwicklung ist aber gefährlich in einem Land, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung laut WHO bei 25,9 Jahren liegt. Politiker wie der 68-jährige Staatschef Ahmed Tejan Kabbah oder der nur wenig jüngere RUF-Führer Foday Sankoh sind Dinosaurier aus einer anderen Zeitrechnung. Erwachsene in Sierra Leone sind schon dadurch privilegiert, dass sie überhaupt leben. Sie können sich Loyalität erkaufen und erzwingen, mit Geld und Gewalt, mit Versprechungen und Drohungen. Die große Masse der Gesellschaft besteht aus Kindern. Was sie brauchen, um das Erwachsenenalter zu erreichen, müssen sie sich erkämpfen, und die Alten zeigen ihnen, wohin sie ihre Gewehrläufe richten sollen.

Miliznamen wie „Kamaboyz“ oder „West Side Boys“ erinnern an die Bandenkriege von L.A. und weniger an einen klassischen afrikanischen Konflikt. Und im Vergleich zur Realität sind diese Namen noch harmlos: Marodierende Banden betrunkener und mit Drogen vollgepumpter Halbwüchsiger; verkohlte Dörfer, aus deren Ruinen Kinder verschleppt werden; mit Macheten und Besenstielen sexuell gefolterte Mädchen; vorpubertäre Massenmörder mit wiederkehrenden Alpträumen – das ist, was bleibt, wenn Warlords ihre Gefolgschaft über die Schmerzgrenze hinaus ausnutzen. „Eine ganze Generation von Kindern ist emotional und physisch versehrt“, sagt Joanna Van Gerpen, Unicef-Leiterin in Sierra Leone.

Dass jetzt in Sierra Leone die größte UN-Truppe der Welt steht, ändert an diesem Zustand nicht das Geringste. Insgesamt gab es nach UN-Angaben beim vorerst letzten Friedensschluss von Juli 1999 in Sierra Leone 5.400 Kindersoldaten und 10.000 von bewaffneten Gruppen entführte und versklavte Kinder. Während der Friedenszeit, von Juli 1999 bis Mai 2000, rückten 1.700 davon in die UN-Entwaffnungslager ein. Inzwischen wird die Gesamtzahl der Kindersoldaten wieder auf 9.000 geschätzt, davon 5.400 auf Regierungsseite.

Ein Ausdruck des Scheiterns ist die Geschichte des 1992 eingerichteten Hilfsprojekts „Children Associated with War“ in Freetown, das Ex-Kindersoldaten in die Gesellschaft integrieren sollte. Es musste 1997 wegen Geldmangel schließen; die meisten der 980 betreuten Kinder kehrten daraufhin zur RUF als Soldaten zurück. Nach dem Friedensschluss von 1999 richtete Unicef mit anderen interessierten Organisationen ein „Child Protection Network“ zur Koordinierung der Hilfe für Kinder ein. Es setzte sich zum Ziel, 5.000 Kindersoldaten und 10.000 Waisen zu betreuen. Bis zum erneuten Kriegsausbruch im Mai sorgte es gerade mal für 794. Sierra Leones Kinder bleiben weitgehend sich selber und den Milizen ihres zerstörten Landes überlassen.

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