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Die Maschinenstürmer

In „Chicken Run“ erzählen die Macher von „Wallace & Gromit“ eine klassische Tierfabel

Es ist nicht weiter schwer, mit Ginger zu sympathisieren, einer Aufrührerin in einer brenzligen Situation, die die Fahne der Freiheit jederzeit schwingen würde, wenn es eine gäbe. Immerhin haben ihre Versuche in Republikflucht schon viermal in einer Strafnacht im Kohlenkasten geendet, allein im Vorspann. Oder war es fünfmal?

Ginger ist die Heldin der Geschichte, wenn auch unter einer androgynen Maske. Am interessantesten wird sie, als die Mission in Bequemlichkeit, Unglauben und Panik unterzugehen droht. Da verhärtet sich dieses akademische Tier mit der schönen Rede. Fairerweise muss man sich fragen, ob die Option der meisten Hühner, nämlich die Gefangenschaft in Kauf zu nehmen, nicht auch berechtigt sei. Dies ist der Moment, wo man etwas wissen möchte über die Vorgeschichte der Figuren – aber die Rückblende gehört nicht zu den Mitteln der animierten Geschichten. Man muss sich zufrieden geben mit der Dynamik des Geschehens, und die liegt hier bei Herr und Knecht. Aufbegehren und Unterwerfung.

Nick Park, der Figurenkünstler und Regisseur, macht gleich zwei große Schritte, wenn er mit Peter Lord einen abendfüllenden Spielfilm entwickelt und sein berühmtes Paar, Wallace und Gromit, in der Puppenkiste lässt. „Chicken Run“ hat keine wirklich sympathischen Figuren; das Einzige, was die Tiere zutiefst liebenswert erscheinen lässt, ist die Gegenwart der Menschen. Sie, Mr. und Mrs. Tweedy, betreiben eine Hühnerfarm. Während die schlaue Mrs. Tweedy die Zeichen der Zukunft in Form von Postsendungen sichtet, sorgt ihren Gatten die Unruhe in der Legebatterie. Der Tölpel ahnt Böses, aber darf nichts tun. Mrs. Tweedy plant den Übergang von der Eierfarm zur Chicken-Pie-Maschinerie, was nur der grobe Hintergrund dutzender von Scherzen über das Verhältnis von Huhn und Ei ist, von fieser Fleischlichkeit und sinnloser Fortzeugung. Leute, die im Nachspann das Kino verlassen, verpassen einen raffinierten Dialog zweier Ratten-Ganoven über das „Wer war zuerst: Huhn oder Ei?“ – unter den Maximen der Profitmaximierung in dreißig Zeilen an den Rand des Irrsinns dekliniert.

Man hat hier alles, was einen schönen Gefangenenfilm ausmacht, den großen Zaun, die bläulichen Baracken bei Nacht, das Suchlicht, geheime Fenster und Türen. Gegen die aufbegehrende Fraktion steht die der häkelnden Kleinbürgerinnen. Eine entgeht nur knapp der Schlachtung und erklärt: „My life flashed before me eyes – and it was really boring!“

Das Leben vor dem großen Flug nach Utopia wird bereichert durch die Notlandung eines Hahns namens Rocky, der als amerikanischer Besserwessi eingeführt und als Aufschneider enttarnt wird. So greift man letztlich zurück auf die Erfahrung eines Experten, der sich zuvor als Kapo in Szene gesetzt hatte und sich mit seiner Royal-Air-Force-Vergangenheit spreizt. Als Pilot gefragt, muss er schließlich gestehen: Dachtet ihr, die haben die wichtigen Sachen den Hühnern überlassen?

Wie Wallace und Gromit in den Filmen zuvor, haben auch diese in Bruchteilen von Sekunden bewegten Plastilin-Figuren die starren Augen und fliegenden Mundwinkel, irgendetwas zwischen niedlich und entsetzt, und im Hintergrund röhrt und brummt die große Maschine.

Gegen die mechanische Industrie, ganz neunzehntes Jahrhundert, hilft nur das mechanische Experiment, und es ist keine Frage, dass die genialen Dilettanten den Zahnrädern der Industrie (natürlich: knapp) entkommen und mit den Zahnrädern der Autoschrauber auf große Fahrt gehen werden. Zwischendrin liegt Mr. Tweedy gefesselt wie Gulliver danieder, dazu die alte flirrende Angstmusik: eine Karikatur auf den Genrefilm der Furcht.

Die Farm der Tiere, allerdings, bleibt reine Fabel im Sinne La Fontaines: ein Spiegel des menschlichen Charakters. Es wäre wohl nicht übertrieben, ihn etwas flattrig zu nennen. Aber das hat nichts zu tun mit der Bedingung der Möglichkeit von Glück. Falls Nick Park und seine Leute nicht irren.

ULF ERDMANN ZIEGLER

„Chicken Run“. Regie und Produktion: Peter Lord und Nick Park, GB u. USA 2000, 91 Min.

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