: Vorbote des Neuen
Auch in der DDR schwärmte man schon vom „neuen Berlin“. Das Haus des Lehrers markierte auch die Abkehr von der Monumentalität der Stalinallee
von WOLFGANG KIL
Als die DDR Anfang der Sechzigerjahre mit der grundlegenden Umgestaltung der östlichen Zentrumsareale ihrer „Hauptstadt“ begann, waren das Haus des Lehrers sowie die zu ihm gehörige Kongresshalle die ersten fertig gestellten Gebäude. Als weithin sichtbare „Vorboten des Neuen“ besetzten sie einen höchst prominenten Ort – genau die Schnittstelle zwischen der von Osten her näher rückenden Magistrale Stalinallee und dem als nächsten Höhepunkt zu inszenierenden Alexanderplatz.
Auch lokalgeschichtlich gab der Ort einiges her: Ungefähr hier hatte das historische Lehrervereinshaus gestanden, ein aufwendiger Jugendstilbau von 1907/08, der Geschäftsräume, Saal, Büros und Bibliothek für ein reformorientiertes pädagogisches Weiterbildungsprogramm bot, das auch über die damalige Reichshauptstadt hinaus ausstrahlte. Im Februar 1919 hatte hier die Gedenkfeier für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stattgefunden.
Auf diese Vorläuferschaft bezog sich das Funktionsprogramm, das die DDR-Regierung als Auftraggeber dem Neubau vorgab: Man dachte an ein repräsentatives „Kulturhaus für Pädagogen“, mit passenden Räumlichkeiten für Weiterbildung und Freizeit. In den ersten beiden Obergeschossen des Hochhauses wurden ein Café und eine Gaststätte (beide öffentlich) eingerichtet, darüber in den zwei „Blindetagen“ hinter dem Wandbild die Bibliothek. Die acht übrigen Geschosse wiesen nutzungsneutrale Großräume auf, die sich mit leichten Stell- und Faltwänden je nach Bedarf als Beratungs-, Schulungs-, Kabinett- oder Clubräume möblieren ließen.
In der Kongresshalle war der runde, von einer flachen Kuppel von 38 Meter Durchmesser überwölbte Hauptsaal für internationale Tagungen ausgerüstet, aber auch für Konzerte, Bälle und andere Festlichkeiten geeignet. Weitläufige und überschwänglich bis auf den Boden verglaste Foyers vermittelten auch im Haus das Gefühl, sich mitten in der Stadt zu bewegen. In einem unauffällig gestalteten Verbindungsriegel fanden noch ein „Gelber Saal“ (300 Plätze) und ein „Weißer Saal“ (250 Plätze, mit Bühne) Raum.
Auch wenn eine achtspurige Straße den Bau auf Distanz hält – seine Adresse lautet „Alexanderplatz 4“. Allerdings enthüllt schon ein flüchtiger Blick auf den Stadtplan, warum sich das Haus des Lehrers so merkwürdig unentschieden zum restlichen Alex-Ensemble verhält: Es schaut nur in zweiter Linie als Anrainer auf den Platz. In erster Linie sollte es den Auftakt markieren für das „neue Berlin“`, das vom Platz aus gesehen hinter ihm begann, ostwärts, die „gegliederte und aufgelockerte Stadt“ der Nachkriegsmoderne, oder (in den Termini der hier waltenden Baugeschichte) Karl-Marx-Allee II, „der erste sozialistische Wohnkomplex der DDR“. Wie der Bug eines Schiffes ragt der blassgrüne Glaskasten an der Spitze des zum Dreieck auslaufenden südlichen Wohngebiets empor. Zu diesem Stadtteil gehört er eigentlich, sowohl historisch wie auch als Planfigur – zu den mit Keramikplatten verkleideten Wohnblöcken, die die „neue“ Karl-Marx-Allee wie auch die elegant geschwungene Alexanderstraße flankieren. Hier, zwischen Alex und Strausberger Platz, hat die architektonische Moderne der DDR ihren Ausgang genommen, und hier hat sie vermutlich auch ihre eigenständigste Ausprägung erfahren.
Der leitende Architekt beim Haus des Lehrers war Hermann Henselmann. In seiner Funktion als Chefarchitekt Ostberlins hatte er bis 1959 maßgeblich an der Planung für jene westwärtige Verlängerung der „alten“ Stalinallee mitgewirkt, die den Bruch mit dem aus Moskau importierten Konzept der „Nationalen Traditionen“ besiegelte. Von nun an wurden in der DDR die Weichen auf die Industrialisierung des Bauwesens gestellt, was für die Architektur den Abschied von klassizistischem Duktus und Dekor bedeutete, ihr dafür den Anschluss an den International Style eröffnete. Da Henselmann sein einflussreiches Amt wegen einer politischen Unachtsamkeit bei genau jenem Planungsvorgang verlor, beauftragte man Werner Dutschke und Edmund Collein mit der Ausgestaltung der neuen Allee, die Gebäude wurden von Josef Kaiser und seinem Kollektiv entworfen.
Außerhalb dieser komplexen Planungszusammenhänge projektierte und realisierte Hermann Henselmann mehr oder weniger im Alleingang sein „Haus des Lehrers“, das in sämtlichen Planskizzen und Modellfotos sowohl für das Wohngebiet „Karl-Marx-Allee II“ wie auch für alle nachfolgenden Alexanderplatz-Entwürfe einen nie revidierbaren Fixpunkt bildete – ein schwer durchschaubares Fait accompli, durch das dieser Architekt sich bereits zum zweiten Mal als „Bahnbrecher“ des neuen offiziellen Trends erweisen durfte: Hatte er 1951, buchstäblich über Nacht, mit seinem Hochhaus an der Weberwiese die folgenreiche Absage an den „Modernismus“ formuliert, so sanktionierte er nun, zehn Jahre später, die genau entgegengesetzte Tendenz. Um den abrupten Auffassungswandel richtig ermessen zu können, stelle man in Gedanken einmal seine Türme am Frankfurter Tor (1957-60) neben das Haus des Lehrers (1961-64): Bauten wie aus grundverschiedenen Welten.
Als wäre es nicht nahezu ein Jahrzehnt lang in verbissenem Ideologiestreit immer nur um „das Nationale in der Form“ gegangen (und als hätte er in diesen Debatten nie auf der sicheren Seite gestanden), zog Henselmann am Alexanderplatz aus dem Stand sämtliche Register dessen, was eben noch als „Amerikanismus“ und „kosmopolitische Dekadenz“ in Verruf gestanden hatte: Eine dreizehngeschossige, völlig geradlinig aufstrebende „vertikale Kiste“, die, anstatt auf einem soliden Sockel zu ruhen, von einer Schar massiver (und dadurch etwas unbeholfener) Rundsäulen emporgestemmt schien. Im Inneren ein Betonskelett, außen die erste in der DDR fabrizierte Curtain-Wall, eine Vorhangfassade aus Glas und Aluminium, die anstelle der unlängst noch dekretierten, von Lochfenstern perforierten Wand jetzt das abstrakte Raster von Montagebauteilen zeigte. Industrielle Gestaltungsmotive prägten auch Josef Kaisers Wohnbebauung in der Nachbarschaft, man begann gerade, sie als Metapher für Technisierung und als das eigentliche Fortschrittssignal zu feiern.
Als ähnlich revolutionär mussten die enormen Glasflächen am Foyer des Hochhauses wie auch rund um die Kongresshalle gelten, die für ein vollkommen neues Raumgefühl sprachen. Neben den materialtechnischen und konstruktiven Innovationen, die beinahe zwangsläufig eine neue Formensprache provozierten, ist aber auch unschwer die Bereitschaft zu erkennen, sich fortan grundsätzlich wieder auf das Erbe der klassischen Moderne einzulassen: Nach dem Architekturkritiker Bruno Flierl markierte das Haus des Lehrers „den Schritt aus dem nationalen ins internationale Reservoir der Bilder.“ Bereits ein aufmerksamer Rundgang vor Ort macht deutlich, wie sehr hier die Heroen der vornehmlich überseeischen Nachkriegsmoderne inspirierend gewirkt haben, von Oscar Niemeyer bis SOM (Skidmore, Owings, Merrill): Hochhaus, Kongresshalle und Verbindungsflügel sind funktional einleuchtend wie auch geometrisch spannungsreich miteinander verschränkt. Im Zusammenspiel mit Wasserbecken, Hochbeeten, gläsernen Freiraumvitrinen und Fahnenmasten bilden die drei Bauteile eine typische, ausladende Gebäudelandschaft im charakteristischen Stil der frühen Sechziger.
Der Architekt selbst hat auf die ihm wichtigen Formkontraste mehrfach hingewiesen: „Durch die energische und sehr aktive Gliederung der Baumassen wurde gewissermaßen der musikalische Grundakkord angeschlagen. Er wird auch bei der Gestaltung der einzelnen Elemente des Gebäudes durchgehalten: Zu den betonten Vertikalen der Fassaden – das gelagerte Bildband, die gelagerte Kuppel. Zu der gläsernen Durchsichtigkeit der Wände – große geschlossene Flächen. Zu dem Viereck des [Kongress-]Foyers – das Kreisrund des Kongresssaales“, schrieb Henselmann. Solche frei im Raum entfaltete und vornehmlich aus der Bewegung erfahrbare Rundum-Ästhetik von licht- und luftumspülten „Gebäudeplastiken“ ist – nach Siegfried Giedeons einflussreicher Abhandlung „Raum, Zeit, Architektur“ – das zentrale Motiv aller „Baukunst der Moderne“.
Das Haus des Lehrers kam beim Publikum an, seine Darstellungen wurden rasch zu Ikonen: Noch im Fertigstellungsjahr gewann eine lapidare Übereckablichtung des Hochkörpers im offiziellen Baufoto-Wettbewerb 1964 den ersten Preis. Auf dem dritten Rang landete „Hochhaus und Kongresshalle vom Alex aus gesehen“, eine Nachtaufnahme, die nun mit ihrer gleißenden Illumination die eigentliche Sehnsucht jener Jahre verriet: Hinter den unendlichen Trümmerfeldern endlich ein bisschen Weltstadt-Flair! Nach der altväterlichen Biederkeit der „alten“ Stalinallee waren solche klaren, luftigen und bei Nacht strahlenden Bauten, wie sie Hermann Henselmann und dahinter erst recht Josef Kaiser mit Kino International, Hotel Berolina und Ladenpavillons nun errichteten, geradezu ein Fanal. Sie waren in der Tat stark genug, ihre Benutzer in ein völlig neues Lebensgefühl mitzureißen: Zukunft war doch machbar!
Wem aber „die neue Zeit“ allzu kühl und seelenlos daherkam, dem half vielleicht die Kunst. Natürlich bezog auch der Bildfries seine Inspirationen aus der fernen Welt. Henselmann selbst hat sich auf Siqueiros, Rivera und Leger berufen, wobei er deren Monumentalkunst-Konzept im Geiste der aktuellen Technikbegeisterung modifizierte: „Das Bildwerk des Bandes sollte aus einem oder mehreren dieser Materialien aufgebaut sein und selbst wie ein Vorhang, ein Schleier wirken. Eine kühne, meinetwegen auch etwas verwegene, auf jeden Fall aber heitere Arabeske.“ Den Auftrag für das bald als „Bauchbinde“ bespöttelte Bildwerk erhielt Walter Womacka. Unterstützt von Günter Brendel, Harald Hakenbeck und Gerhard Bondzin, fabrizierte er ein Panorama von Alltagsszenen aus dem „glücklichen Leben in der DDR“ im schulfibelhaften Realismus der Ulbricht-Ära.
Dass über dessen Ungenießbarkeit wohl nur eine bildungsbürgerliche Minderheit die Nase rümpfte, belegt ein winziges Detail des insgesamt 125 Meter langen Endlosbildes: Auf der dem Platz abgewandten Seite findet sich eine zwar spiegelverkehrte, ansonsten unverkennbar figurengetreue Variante des Motivs „Junges Paar am Strand“. Dessen endgültige Fassung als Tafelbild (1962) hing später auf der VI. DDR-Kunstausstellung in Dresden und wurde in den Folgejahren das mit Abstand meistreproduzierte Zimmerschmuckbild der gesamten DDR-Malerei.
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