Nazi-Verbot auch ohne Notstand

■ Verfassungsgerichtsurteil könnte auch auf Hamburg Wirkung zeigen
Von Kai von Appen

Es gibt doch Gründe, einen von der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) angemeldeten Neonaziaufmarsch zu verbieten. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) in einer Grundsatzentscheidung dargelegt. Das Urteil zum Verbot einer Nazi-Demo in Göttingen am 15. Juli ist auch für Hamburg von Bedeutung. Nicht nur, weil es die Handschrift des ehemaligen Hamburger Justiz-senators und heutigen Verfassungsrichters Wolfgang Hoffmann-Riem trägt, sondern weil es mit der These der Hamburger Innenbehörde aufräumt, NPD-Märsche könnten nur bei „polizeilichem Notstand“ verboten werden. Vielmehr können Aufmärsche laut BVG auch dann untersagt werden, wenn Dritte zu Gewalt aufrufen und die Versammlungsleitung dagegen nichts unternimmt.

Die Neonaziaktionen der letzten Monate haben unter Juristen einen tiefen Graben aufgerissen und zu widersprüchlichen Urteilen der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte (OVG) geführt. Während das BVG noch Karfreitag ein vom OVG-Lüneburg bestätigtes Demoverbot für Tostedt aufhob, weil die befürchtete „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ (...) nicht durch konkrete Tatsachen belegt“ worden sei, hat dasselbe Gericht anschließend in Weimar und Göttingen zwei Aufmarsch-Verbote bestätigt.

Im Göttinger Verfahren brauchten die Verfassungsrichter drei Wochen, um ihre Begründung in schriftliche Form zu bringen. Dabei legen sie an ein Versammlungsverbot hohe Maßstäbe an. So reicht ein einfacher Wink von Staats- oder Verfassungsschutz auf „Rechtsverstöße“ bei vorangegangenen NPD-Veranstaltungen für ein Verbot nicht aus, wenn es an einem „konkreten Bezug“ zu der nun geplanten Verstaltung mangelt. Auch der Versammlungsleitung per se die „erforderliche Bereitschaft und Fähigkeit“ abzusprechen, eine Versammlung ordentlich leiten zu können, weil gegen sie einmal Ermittlungsverfahren anhängig waren, lässt das BVG nicht gelten.

Gelten lässt das BVG auch nicht die Argumentation des OVG-Lüneburg, dass durch einen NPD–Aufmarsch Gegendemonstrationen und Gewalt „provoziert“ werden, so dass der NPD-Aufzug von der Göttinger Polizei nicht hinreichend geschützt werden kann und deshalb untersagt werden müsse.

Das BVG hob vielmehr auf die Außeneinwirkung ab: In einem Interview hatte der Göttinger Neonazi Stephan Pfingsten die Bedeutung des Aufmarsches in der linken Hochburg hervorgehoben und Göttingen als „Frontstadt im politischen Kampf“ und „Eiterbeule“ bezeichnet, wodurch offenkundig das militante rechte Spektrum mobilsiert werden sollte. Und davon hatten sich die Veranstalter – in diesem Fall zwei Mitglieder des NPD-Landesverbandes – nicht distanziert.

Nach Meinung des BVG müss-ten Veranstalter aber „einkalkulieren, dass die Äußerungen und Aufrufe Dritter (...), einen Gewalt fördernden Einfluss auf die Teilnehmerschaft und das erwartete Verhalten der Versammlungsteilnehmer haben“. Daher müssten die Veranstalter bereits „im Vorfeld“ „öffentlich deutliche Signale setzten, die auf die Gewaltfreiheit der Versammlung ausgerichtet sind“, so das BVG. „Konkrete Nachweise und Angaben zu diesen Bemühungen“ seien im Göttinger Fall nicht erbracht worden.

„Dabei kommt es nicht darauf an, ob es der Polizei möglich wäre, die Begehung von Gewalttaten aus der Versammlung heraus zu verhindern“, führt das Gericht weiter aus. Entscheidend sei vielmehr, dass „vom Vorliegen einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen“ werden kann, was verfassungsrechtlich ein Verbot rechtfertige. Vor diesem Hintergrund hält es das Gericht für überflüssig zu prüfen, ob wegen möglicher „gewalttätiger Ausschreitungen linksextremer Personen“ ein Verbot auch mit einem „polizeilichen Notstand“ hätte begründet werden können. Im Klartext: Die Polizei kann den rechten Aufmarsch auch ohne das Szenario der durch Gegendemos überforderten Polizei verbieten.