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Die Botschaft der trügerischen Texte

In ihrer raffinierten Studie widerspricht Sabine Vogel dem klassischen Klischee vom Niedergang des Humanismus im 16. Jahrhundert

Für den konservativen Basler Historiker Jacob Burckhardt zehrte der Renaissancehumanismus vom „engen Bündnis mit dem . . . italienischen Volksgeist“. Burckhardt legte sich die Renaissance als Zusammenfügung „zwei weit auseinander liegender Kulturepochen desselben Volkes“ zurecht, was gleichbedeutend war mit einer Abwertung der Art, wie „das übrige Abendland“ die Antike wieder entdeckte. „Außerhalb Italiens handelt es sich um eine gelehrte, reflektierte Benützung einzelner Elemente der Antike, in Italien um eine gelehrte und zugleich populäre sachliche Parteinahme für das Altertum überhaupt, weil dasselbe die Erinnerung an die eigene alte Größe ist“. Dem Befund, dass es sich bei Renaissance und Humanismus außerhalb Italiens nur um eine Art Verfallsprodukte gehandelt haben soll, rückt die Studie der Berliner Historikerin Sabine Vogel auf eine phantasievolle Weise zu Leibe. Sie zeigt, wie im Laufe der französischen Rezeption des Humanismus „ein eigenes spezifisch französisches Ideal von Bildung und Gelehrsamkeit“ entstand, das man nicht oder sogar falsch versteht, wenn man es von vornherein nur als Verfallsprodukt begreift.

Sabine Vogel bedient sich in ihrer Arbeit eines raffinierten Arrangements. Nach Paris war Lyon im 16.Jahrhundert die zweitwichtigste Stadt für Verleger, Drucker und Buchhändler. An einer Stichprobe von 340 Werken, die zwischen 1519/20 und 1579/80 in Lyon gedruckt bzw. zu etwa drei Vierteln nachgedruckt wurden, untersucht sie die Rezeption des Humanismus nicht an den Buchtexten selbst, sondern anhand der Widmungen, Vorreden und Vorwörter. Diese „trügerischen Texte“ dienen zwar hauptsächlich dazu, Leser zu gewinnen, Leser zu täuschen und Allgemeinplätze über die mit dem Buch verfolgten Zwecke zu verbreiten, aber in diesen Trivialtexten spiegelt sich der Wandel von Bildung und Gelehrsamkeit im Beziehungsdreieck von Autoren, Verlegern und Publikum wie auf Visitenkarten – exemplarisch. „Autoren und Verleger präsentieren sich in ihren Vorworten als diejenigen, die das kulturelle Erbe treuhänderisch verwalteten“.

Das Ideal des humanistischen Selbstverständnisses war die Rückkehr zu den Quellen (ad fontes): Sie wollten eine Rekonstruktion der durch die Überlieferung verfälschten Texte im Geiste der humanitas, verstanden als Einheit von Gelehrsamkeit (doctrina), Tugend (virtus) und Beredesamkeit (eloquentia). Erasmus von Rotterdam verkörperte den Idealtyp des gelehrten Lesers, riet er doch den Mitgliedern in der fiktiven Gelehrtenrepublik, einmal im Leben alle antiken Autoren im griechischen oder lateinischen Original zu lesen. Die Gelehrten, die sich zu dieser Republik zählten, verkehrten untereinander in ihren Briefen nach ganz bestimmten Codes der Selbstdarstellung. Diese Codes beruhten sprachlich auf Elementen der antiken Rhetorik und dienten der Selbstbestätigung ebenso wie der Abgrenzung von den Ungebildeten (homines naturales), aber auch von den weniger gebildeten Ärzten, Advokaten oder Beamten, die aus dem Bürgertum in nobilitierte Ämter der königlichen Verwaltung aufgestiegen waren. Von den 340 Werken der Lyoner Stichprobe ordnet Sabine Vogel anhand der Untersuchung der stilistischen Eigenheiten der Vorreden und Widmungen 67 Texte dem Gelehrtenideal zu. Die Minderheit dieser Gelehrten waren für ihre Hauptarbeit, die Herstellung und Rekonstruktion von zuverlässigen Texten, auf wohlhabende Gönner und Mäzene angewiesen, die ihnen die antiken Handschriften zur Verfügung stellten. Das Vorbild war der Florentiner Philologe, Übersetzer und Dichter Angelo Poliziano (1445 – 1494) am Hofe der Medici. Als Gönner versuchten sich auch eben erst aufgestiegene königliche Beamte dem Hochadel gegenüber als ebenbürtig zu profilieren. Diese Gönner selbst waren nicht mehr dem Bildungsideal der Gelehrten verpflichtet, sondern instrumentalisierten diese für ihren sozialen Aufstieg und die Hebung ihres kulturellen Prestiges.

Sabine Vogel zeigt anhand der Buchproduktion, wie das Gelehrtenideal an Bedeutung verlor. Zentral dabei war der Aufstieg der weltlichen Schulen (collèges), an denen die antike Tradition durch den Lateinunterricht zwar vermittelt wurde, aber nicht mit dem Zweck, die jungen Leute zu Gelehrten zu machen. Vielmehr zählte eine gediegene humanistische Bildung zu den wichtigsten Faktoren für den Erfolg in einem angesehenen Beruf oder Amt. Neben Klassikerausgaben für den Schulgebrauch erlangten jetzt Handbücher, juristische Texte, Geschichtswerke und enzyklopädische Kompendien größeres Gewicht. Sie erschienen zunächst noch vorwiegend in lateinischer Sprache, halbierten aber das antike Erbe insofern, als sie nicht mehr integrale Editionen darstellten, sondern Auszüge und Zusammenfassungen für praktische Zwecke anboten. Am wichtigsten war der Markt für juristische Bücher, für den Lyon das europäische Zentrum bildete.

Die Einheit von Gelehrsamkeit (doctrina), Tugend (virtus) und Beredesamkeit (eloquentia) wurde funktional aufgesprengt. Die drei Teile der humanitas verselbständigten sich zu den sozialen Distinktionsmerkmalen des Fachwissenschaftlers, des rechtgläubigen Christen und des ebenso gebildeten wie feinsinnig-eleganten Redners in allen Lebenslagen. Das antike Erbe entwickelte sich zum „Baukasten“, dem soziale Gruppen das entnahmen, was sie gebrauchen konnten für ihr Prestige und ihren Aufstieg. Am besten sichtbar wird das an der Geschichte des vielfältigen Genres der Kompilationsliteratur. Dazu zählen Zitat- und Sentenzensammlungen, Florilegien (Sammlungen von Sprüchen und Redewendungen) und Ratgeberbücher. Zur humanistischen Tradition von Guarino Veronese bis zu Melanchthon gehörte, dass die Schüler bei der Lektüre antiker Autoren, den studia humanitatis, Zitatsammlungen (so genannte loci-communes-Hefte) anlegten. Daraus entsprangen die alphabetisch oder nach Sachgruppen geordneten Bücher, in denen „die Quintessenz der Antike“ und „die Weisheit der Alten“ handlich zusammenfasst wurden „für diejenigen, die zwar außerhalb der Gelehrtenrepublik standen, doch lateinische Texte lesen konnten“. Erasmus protestierte gegen eine solche Verdünnung des antiken Erbes, aber der Erfolg dieser Bücher war damit nicht mehr zu stoppen.

Die Autorin interpretiert diesen Prozess nicht als Niedergang, sondern als Formwandel des traditionellen Gelehrtenideals zu jenem des bon esprit. Die bons esprits sind gebildet, aber nicht mehr im humanistischen Sinne gelehrt. Diese Gruppe von Gebildeten entdeckt und beschrieben zu haben, ist ein Verdienst von Sabine Vogel. An der lehrreichen und soliden Arbeit Sabine Vogels stören außer dem Ladenpreis nur gelegentliche anachronistische Übersetzungsunschärfen (etwa „die Intellektuellen“ für „les spirituels“) oder die kumpelhafte Präsentation des Verlegers Aldo Manuzio als „Aldo“.

RUDOLF WALTHER

Sabine Vogel: „Kulturtransfer in der frühen Neuzeit. Die Vorworte der Lyoner Drucke des 16.Jahrhunderts“. Mohr Siebeck, 318 Seiten, 168 Mark.

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