: Kein Mensch muss müssen
Die taz führt an die wahrhaft bösen Orte dieser Stadt. Teil 4: Der Lessingtunnel ist nur fürs Filmedrehen geeignet ■ Von Karen Schulz
Kennen Sie den Lessingtunnel? Bestimmt - vor allem, wenn Sie in Altona oder Ottensen wohnen: die kleine Unterführung, die kurz vor dem Altonaer Bahnhof die Bahnstrecke unterquert. Warum dieses Bauwerk jedoch einen solch imposanten Namen trägt, bleibt ungeklärt: Im Stadtplan ist die Unterführung zwischen Julius-Leber- und Barnerstraße unbezeichnet, auch die Baubehörde bestätigt die Namenlosigkeit des Objekts.
Doch in den Köpfen der HamburgerInnen heißt die Unterführung eben Lessingtunnel. Während sonst Menschen mit nach ihnen benannten Orten geehrt werden sollen, tut man hier einem großen Dichter Unrecht. Immerhin ist der Lessingtunnel wohl das armseligste Exemplar seiner Gattung: Andere Tunnelanlagen warten mit Größe und Majestät auf - man denke nur an imposante Röhren, die in die Alpen geschnitten wurden oder Flüsse und selbst Meeresarme unterwandern - , doch dieses Bauwerk ist nicht mal die Bezeichnung Tunnel wert: Man quält sich durch muffiges, von Abgasen erfülltes und von Vogeldreck gekennzeichnetes Halbdunkel.
Ein ordentlicher Tunnel sollte ganz nebenbei eigentlich Schutz vor Unwetter bieten - den Lessingtunnel verlässt man selbst bei strömendem Regen im Eiltempo. Zwar werden Augenzeugenberichten zufolge dort alle zwei bis drei Monate die Reinigungsmaschinen aktiv, doch ist das immer gleich bleibende Muster auf dem Boden umso Unheil verkündender. Selbst künstlerische Versuche wie die derzeit dort befindliche Installation versagen vor der Aufgabe, das Ambiente dieses Tunnels zu retten oder auch nur aufzulockern.
Und das Übel beschränkt sich nicht nur auf den Tunnel selbst, sondern zieht größere Kreise: Wer zu Fuß und in Zeitnot die Unterführung als vermeintliche Abkürzung wählt, wird über kurz oder lang Kopf und Kragen riskieren. Dann nämlich, wenn man, von der fußgängerunfreundlichen Ampelschaltung in den Wahnsinn getrieben, das Warten aufgibt und zwischen den Autos auf die Fahrbahn springt, um den günstig in der Mitte des Tunnels gelegenen Fußweg zu erreichen. Nur um nach der Durchquerung an der nächsten Ampel erneut warten zu dürfen... Auch dass im vergangenen Winter die Beleuchtung nachts ausfiel, dafür am Tage aber umso heller brannte, macht die Unterführung nicht unbedingt sympathischer: Durch die spezielle Architektur mit dunklen Winkeln hinter den vielen Trägern eignet sich der Lessingtunnel besser für die Starrolle in einem Horrorfilm - und wird entsprechend in vielen der in Hamburg gedrehten Streifen abgelichtet.
Für den Alltag hat dieses Bauwerk seinen Sinn zumindest für Menschen ohne Auto verfehlt: Wer die Durchquerung vermeiden kann, tut dies und nimmt dafür lieber Umwege in Kauf. Bleibt schluss-endlich nur eine Frage: Wollte sich vielleicht irgendwer mit der Benennung dieses Bauwerks für quälende Diskurse über die nach unserer Stadt benannte Dramaturgie des Herrn Lessing rächen?!
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