Wie es mir gefällt

Ein Literaturprojekt geht seinem Ende zu: „Schröder erzählt“ ist die Autobiografie Jörg Schröders, der mit den Publikationen seines MÄRZ Verlags achtzehn Jahre lang die politisch-literarisch-künstlerische Gegenkultur in der Bundesrepublik geprägt hat

von MATTHIAS REICHELT

Schröder! Der Name wirkt zurzeit abschreckend. Längst wird die letzte Cohiba des Namensvetters mit dem Wichtig-wichtig-Gesicht verglommen sein, da werden die Geschichten, die Jörg Schröder seiner Lebensgefährtin Barbara Kalender und damit einem kleinen Kreis von Abonnenten erzählt, noch immer auf Interesse stoßen. Seit zehn Jahren arbeitet die Liebes-, Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Schröder & Kalender an dem großen Fortsetzungsroman, der quartalsweise in homöopathischen Dosen von jeweils 45 bis 50 Seiten erscheint und nun mit der Publizierung des 40. Bandes Ende September seinen Abschluss findet.

Mit dem Namen Jörg Schröder verbinden sich ab Ende der 60er-Jahre einschneidende Ereignisse in der Literaturgeschichte der Bundesrepublik. Denn der von ihm geleitete MÄRZ Verlag hat 18 Jahre lang mit wichtigen Publikationen die politisch-literarisch-künstlerische Gegenkultur in der Bundesrepublik begleitet und gefördert. Besitzt man nicht selbst einige Exemplare, so hat man sie doch dank ihres einprägsamen Covers geistig vor Augen. Die rote Schrift im leuchtend gelben Fond, die für den ersten Titel „Roter Stern über China“ von Edgar Snow entwickelt wurde, bestimmt seit der Verlagsgründung 1969 die grafische Corporate Identity mit hohem Wiedererkennungswert. Es folgen Romane, darunter Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“, die US-amerikanische Anthologie „ACID“ herausgegeben von Brinkmann & Rygulla, „HEADCOMIX“, das erste Buch von Robert Crumb, Sachbücher, viele als Erstveröffentlichungen, die im Laufe der Jahre zu Klassikern werden und heute in Lizenz bei anderen Verlagen im Programm sind. Günter Amendts radikal-politisches Aufklärungsbuch „Sexfront“ und Bernward Vespers „Die Reise“ sind nur zwei von zahlreichen Beispielen. Kurz nach dem MÄRZ Verlag gründete Schröder die Olympia Press sowie die Olympia Film zur Verbreitung pornografischer Literatur und der Produktion von Pornofilmen unter Beteiligung illustrer Personen wie etwa Gerhard Zwerenz und Bazon Brock, dessen Beine auch in irgendeinem Film zu sehen sein sollen. Besonders Olympia Press avancierte infolge großen Absatzes zum finanziellen Standbein des MÄRZ Verlags, der immer mal wieder vor dem finanziellen Aus steht.

Intimes Du

Schröder in Kurzform, das heißt Jahrgang 1938, Ende der 50er-Jahre Buchhändlerlehre, 1961 Werbeassistent beim Westdeutschen Verlag, ab 1963 Werbeleiter bei Kiepenheuer & Witsch, 1965 bis 1969 Geschäftsführer des Joseph Melzer Verlags in Darmstadt, 1969 im März, nach dem Rausschmiss bei Melzer, Gründung des MÄRZ Verlags. 1974 Konkurs und Neugründung, Vertrieb der MÄRZ-Bücher über Zweitausendeins und danach Mailorder Kaiser, 1982 bis 1985 wieder als MÄRZ Verlag im Buchhandel, 1987 erneuter Konkurs.

„Schröder erzählt“ ist die Autobiografie Jörg Schröders mit dem MÄRZ Verlag als Herzstück, der dem Erzähler aufgrund der Turbulenzen zwei Infarkte bescherte. In subjektivem Ton, immer den Zuhörer und Leser im Sinn, der als Adressat mit einem intimen „Du“ angesprochen wird, erzählt Schröder Erlebtes aus seiner Perspektive. Das Abschweifen nach dem Motto „apropos“ ist das dem Alltag der mündlichen Erzählung entlehnte und zum Kunstgriff erhobene Prinzip, nach dem „Schröder erzählt“ funktioniert. Das dialogische Nachfragen und Insistieren auf bestimmte Stränge durch Barbara Kalender, der Zuhörerin, gehören dazu und haben zur Folge, dass die literarische Endfassung das Werk beider ist.

Entlang des thematischen Hauptstrangs, dem MÄRZ Verlag, reihen sich Geschichten und Anekdoten über Verleger, Verlagspolitik, über „Muff“ und Wirtschaftswunder der Adenauer- und Erhard-Zeit, die Studentenbewegung, Nazi-Vergangenheit, Subkultur, Politik, Zensur, Degoutantes, Autoren und Ranküne in vierzig Bänden zu einem zirka 2.200 Seiten starken Fortsetzungsroman, der immer wieder Exkursionen in die Gegenwart enthält. Er ist ein unverschlüsseltes Who’s who der offiziellen und subkulturellen Bundesrepublik. Hintergründiges, Verborgenes und Verheimlichtes wird hier ausgeplaudert, und das Personal bekommt die realistischen Züge, die sonst hinter Presseerklärungen oder Verlautbarungen verborgen bleiben.

Der intime Blick hinter die Kulisse befriedigt einerseits einen Voyeurismus, von dem alle in der Branche zehren, ohne es freilich zuzugeben, andererseits lassen sich Zusammenhänge und Entwicklungen erkennen, die einige Protagonisten heute gerne unter den Teppich kehren. Das gilt in der Branche selbstverständlich als unschick und Verrat. Schröder hat sich seine Skepsis gegenüber herrschender Geschichtsschreibung bewahrt und verbindet sein linkes Bewusstsein mit einem intelligenten Hedonismus, der nichts mit der tumben Ich-will-Spaß-Generation gemein hat. Wurde ihm in den Siebzigerjahren sein Hang zu Eskapaden mit Alkohol, Koks und Puffbesuchen vorgeworfen, der ihm Titel wie Amokläufer, Hasardeur, Hurenbock, Pornokönig, Säufer, Zyniker und viele andere mehr einbrachte, so ist es heutzutage eher die Kontinuität seiner politischen Haltung, aus der heraus er genüsslich die Enttarnung des Opportunismus und der Lebenslügen all der Wir-waren-die-radikalsten-Genossen zelebriert, ohne jedoch seine eigenen Irrungen und Wirrungen auszusparen.

Joschka, der Pornograf

Es ist schon grotesk, wenn K. D. Wolff in einem Interview für den mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichneten Film „Die MÄRZ-Akte“ Signet und Namen seines Verlags „Roter Stern“ 1984 folgendermaßen erklärt: „Ich bin nie Kommunist gewesen. Der Rote Stern war für uns eine Allusion, wir hatten damals schon die Fantasie, dass wir uns die hergebrachte politische Symbolik einfach nehmen können und daraus was Neues machen. Der Rote Stern war für uns auch etwas Surrealistisches und schon was Radikales, was in fünf Richtungen zeigt, lauter Spitzen hat und auch was Freches ist. Wir dachten nicht, damit eine parteipolitische Gesinnung auszustellen.“ Aufgenommen als wörtliches Zitat findet sich diese denkwürdige Ableitung in „Schröder erzählt“, Folge 13 „Moderne Zeiten“ (Mai 1993) ebenso wie der Hinweis, dass der stirnrunzelnde Außenminister Joseph Fischer auch einmal als Übersetzer von pornografischer Literatur tätig gewesen ist. Was hätte aus ihm werden können?!

Von jeder Geschichte gibt es zwangsläufig genau so viele Varianten wie an ihr beteiligte Personen. Dies hat naturgemäß zur Folge, dass die Betroffenen bei Konfrontation mit der schröderschen Variante immer mit dem Satz beginnen: Das hat sich ganz anders abgespielt. Wie sollte es auch anders sein. Was normalerweise eine Kette von Gegendarstellungen und Unterlassungsklagen nach sich ziehen würde, ist durch das ausgeklügelte Vertriebsverfahren so gut wie unmöglich. Obgleich jede Folge mit einer ISBN-Nummer versehen ist, wird jedes einzelne Exemplar dem Käufer gewidmet und erhält dadurch Exklusivität und Unikatcharakter. Dieses Verfahren setzt aber voraus, dass – im Falle einer Bestellung über den Buchhandel – der Buchhändler den Namen seines Kunden mitteilt, ehe die entsprechende Folge hergestellt, mit Widmung versehen und an die Buchhandlung ausgeliefert wird. Die geringe Auflage, die im Schnitt 400 Exemplare beträgt, senkt den möglichen Streitwert für Juristen ins schier Uninteressante; zudem gibt es keine Lagerbestände, die von Auslieferungsverbot oder Beschlagnahme bedroht wären. Alle trickreichen und wie auch immer camouflierten Versuche der „Schröder-Geschädigten“, eine bestimmte Ausgabe der Oral History durch eine Buchhandlung zu bestellen und gegen angebliche Invektiven vorzugehen, wurden vom MÄRZ Desktop Verlag erfolgreich unterbunden oder verliefen im Sande.

Die in der Romanerzählung vorkommenden Personen aufzuzählen, würde jeden Rahmen sprengen. Nur so viel: von A wie Rudolf Augstein bis Z wie Zweitausendeins sind alle Personen, Gruppen und Institutionen mit von der Partie. Auf DIN-A4-großem holz- und säurefreiem, alterungsbeständigem und chlorfrei gebleichtem 90 g/qm gelblichen Werkdruckpapier Poet von Schleipen werden die Folgen gedruckt und „jeweils von Hand in einen 250 g/qm Chromolux-Karton gebunden“. Diese Angaben aus dem Impressum, die liebevolle Verarbeitung und Details lassen erkennen, dass hier die obsessive Form der Bibliophilie am Werke ist. Jeder Band ist zudem mit einem Detail eines Pop-Art-Gemäldes von Roy Lichtenstein versehen, das per Hand auf das Titelblatt aufgeklebt wird. Ein gestanzter Ausschnitt im Cover gibt den Blick auf ein Segment dieses Bildes frei. Jedes der einseitig bedruckten Blätter enthält in der Kopfleiste eine auf den Text bezogene Vignette. Editions- und drucktechnisch ist also alles vom Feinsten. Bis auf Druck-, Schnitt- und Stanzarbeiten wird der Produktionsprozess autark von Barbara Kalender und Jörg Schröder in ihrer Augsburger Werkstatt selbst abgewickelt. Ende September erscheint die letzte Folge unter dem Titel „Languages spoken“ samt einem Band mit Synopsis und Personenregister, jedoch nicht, ohne den Abonnenten ein neues Projekt anzukündigen. Es wird, mit dem November 2000 beginnend, dreimal jährlich als „Schwarze Serie“ erscheinen.

MÄRZ Desktop Verlag, Barbara Kalender und Jörg Schröder, Rosenaustr. 70 D-86152 Augsburg Fax: (08 21) 15 25 95