: Ein Appell zum Umdenken
Beim Aufbau Ost wiederholen die großen Parteien die grundlegenden Fehler der Entwicklungshilfepolitik: Die Projekte werden an den Menschen vorbei entwickelt
Die Region der neuen Bundesländer ist innerdeutsches Entwicklungsland. Das derzeitige Programm zur Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft dürfte weltweit das teuerste regionale Strukturprogramm mit der zugleich geringsten Wirkung sein. Eine Fortführung ist für Gesamtdeutschland nicht tragbar und für Ostdeutschland nicht sinnvoll. Wenn die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Ostdeutschlands wirklich gelöst werden sollen, muss von dieser Basis aus eine im Grundsatz neue wirtschaftspolitische Strategie für die Region erarbeitet werden: Es nutzt wenig, Strukturen zu fördern, wenn die Menschen nicht damit vertraut gemacht werden.
Das belegt ein Blick auf die 10-jährige Geschichte der innerdeutschen „Entwicklungshilfe“.
Die Währungsunion soll 1990 die Fiktion eines Zusammenschlusses unter Gleichen schaffen. Faktisch verläuft die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit wie ein klassischer Fall der Entwicklungszusammenarbeit: Ein hoch entwickeltes Industrieland hilft einem rückständigen Land beim Aufbau – anfangs sogar mit „Buschzulage“. Das Entwicklungsmodell für Ostdeutschland ist auf allen Ebenen des Staates und der Wirtschaft das Muster „Westdeutschland“. Deshalb erweisen sich schlagartig Fähigkeiten und Erfahrungen der lokalen Bevölkerung als unbrauchbar im wirtschaftlichen Alltag. In der Folge werden leitende Funktionen in Wirtschaft und Verwaltung weitgehend mit Fachkräften aus dem Westen besetzt.
Wie in vielen Entwicklungsländern bildet sich auch in Ostdeutschland als Folge der Widerstände gegen das neue Modell ein extrem zwiespältiges Verhältnis der Bevölkerung zur Vorbildgesellschaft heraus. Zwar werden Konsumziele und Gewohnheiten so weit möglich kopiert und populäre Massenkulturbeiträge des Westens adaptiert. Gleichzeitig jedoch bilden sich Antipathien gegen das politische System heraus, gegen wichtige Repräsentanten und auch einzelne „Wessis“.
Wie in Entwicklungsländern gibt es im Laufe der Entwicklungszusammenarbeit einen „brain-drain“ und eine Migration der jungen wirtschaftlich Aktiven. In der Folge entvölkern sich auch nach der Währungsunion, anders als erhofft, in Ostdeutschland ganze Regionen. Viele Städte verlieren mehr als 30 Prozent ihrer Einwohner. Im Land Brandenburg z.B. stehen 120.000 Wohnungen leer. Hier liegt ein Unterschied zu den Entwicklungsländern: Es fehlt das rasante Bevölkerungswachstum, das alles wieder ausgleicht.
Wie in einigen Entwicklungsländern (genauer: Schwellenländern) gibt es einzelne Regionen, in denen die Investitionen von außen Früchte tragen. Es bilden sich durchaus florierende Ableger von Großunternehmen und begrenzte Regionen der Prosperität. Die Vorzeigeunternehmen strahlen aber mit ihrer Dynamik nicht auf das System als Ganzes aus, sie bleiben Inseln. Dieses Muster ist bekannt aus dem Süden Italiens, dem Mezzogiorno, der trotz aller Hilfsprogramme und Industrieansiedlungen ewig hinter den anderen Regionen zurückbleibt.
Wie in allen „Kooperationen“ der Entwicklungszusammenarbeit stellen sich beide Seiten schnell auf den Finanztransfer als Dauerzustand ein. Der Glaube an bessere Resultate der Hilfsprogramme bleibt – ungeachtet aller Misserfolge – als Zukunftserwartung ungebrochen. Dementsprechend streiten die meisten Politiker heute allenfalls über die Höhe und die Quellen der künftigen Finanzhilfe.
Ja, so ist die Welt der innerdeutschen Entwicklungszusammenarbeit in Ordnung.
Nur: Nach dem zwangsläufigen Zusammenbruch der „plangeprägten“ Ostbetriebe berücksichtigen auch die nachfolgenden politischen und ökonomischen Konzeptionen für die Integration der Wendewirtschaft in das westliche Entwicklungsmodell bloß die äußerlich sichtbaren, materiell greifbaren Folgen der vorangehenden historischen Periode. Verrottete Anlagen werden beseitigt, verfallende Häuser restauriert und Gehwege gepflastert. Kurz: Die Aufbau-Ost-Projekte peilen in gewohnter deutscher Gründlichkeit die komplette Neuerschaffung der Infrastruktur an. Vergessen wird dabei jedoch ein fundamentaler Tatbestand: Eine noch so perfekte Infrastruktur kann wirtschaftliches Wachstum nur dann fördern, wenn die wirtschaftlich aktiven Menschen über ihre Lebenserfahrung mit Kenntnissen, Fertigkeiten und Verhaltensmustern ausgestattet sind, um diese Infrastruktur produktiv zu nutzen. Während in Polen und Tschechien die Menschen im neuen System Fehler machen können und trotz aller Probleme ihren Weg grundsätzlich selbst bestimmen, muss in Ostdeutschland von heute auf morgen das Leben auf das importierte System umgestellt werden. Jeder Fehler wird unter der Konkurrenz, ja Aufsicht durch Berater, Investoren oder Kollegen aus Westdeutschland offensichtlich und öffentlich. Es gibt keine Lernphase und schlimmer noch: Es herrscht eine permanente faktische Bevormundungssituation, auch wenn dies von den einzelnen „Wessis“ nicht so gemeint ist.
Die psychologische Wirkung dieser Herabstufung in die Position der eingeborenen Zurückgebliebenen ist fatal. Es fehlen in den neuen Bundesländern sowohl die technischen und Verwaltungskenntnisse der westlichen Entwicklungsstufe als auch die vielfältigen Kulturtechniken des Wirtschaftslebens, um erfolgreich das Leben in der Marktwirtschaft zu reorganisieren. Es gehen zudem in wenigen Monaten die für eine Marktwirtschaft wichtigen Grundeinstellungen verloren: das Selbstvertrauen, die Neugier und der Mut der wirtschaftlich aktiven Menschen. Mit dem technisch-baulichen Ansatz des Aufbaus Ost ist der Grundfehler der Entwicklungshilfe wiederholt worden. Solange die Menschen, denen „geholfen“ werden soll, eine neue Lebensstruktur nicht verstehen, nicht beherrschen, sie nicht wirklich wollen, sind alle noch so ausgeklügelten Projekte wirkungslos.
Es ist bei aller Würdigung des Erreichten sinnlos, weiter einseitig auf Infrastruktur- und Bauprojekte zu setzen und die Subventionen in die Unendlichkeit fortzuschreiben. Gefordert ist jetzt eine Investition in die Fähigkeiten der Menschen, damit jene die vorhandene hoch entwickelte Infrastruktur tatsächlich produktiv nutzen lernen. In den Wachtumsregionen dieser Erde ist die wirtschaftliche Initiative der Menschen der antreibende Faktor, die Infrastruktur wird den Bedürfnissen der Entwicklung hinterhergebaut: Beispiele dafür sind Südkorea, Taiwan oder Malaysia. In diesem Sinne sollte die innerdeutsche Entwicklungshilfebeziehung als das Grundproblem des Aufbaus Ost erkannt und beendet werden.
Arbeitssuchende Menschen müssen in ihrem Wunsch nach einer wirtschaftlichen Perspektive ernst genommen werden und dürfen nicht weiter in AB-Maßnahmen mit Aufbewahrungscharakter abgeschoben werden. Zentraler Gedanke aller Arbeitsfördermaßnahmen sollte sein: wirtschaftliche Kompetenz herausbilden und wirtschaftliche Kulturtechniken aneignen – damit auch die Generation der über 40-Jährigen noch eine wirtschaftliche Chance erhält.
Grundsätzlich ist eine Investition in die Kompetenz der Menschen auf allen Ebenen gefragt, seien sie Selbstständige oder Betriebsleiter, Mitarbeiter in Produktentwicklung oder Marketing, Gründer im Dienstleistungs- oder Handelsbereich, Arbeitssuchende oder Konsumenten. Eine lebendige Wirtschaft lebt von der Vielfalt der Initiativen und Bedürfnisse. Sie setzt Neugier, Erfahrung, aber auch Selbstvertrauen voraus. Hier sind nicht nur die Defizite der 40-jährigen Planwirtschaft, sondern auch die Schäden der vergangenen 10 Jahre aufzuarbeiten. Es sind völlig neue Instrumente der Wirtschaftsförderung nötig. Angesichts einer Arbeitslosenrate von bis zu 20 Prozent in den neuen Bundesländern steht die Frage an, ob der Osten Deutschlands auf Dauer eine Region mit dem Stigma des Entwicklungslandes bleiben soll. Wenn die Politik eine gleichberechtigte Integration in das Wirtschaftssystem Deutschlands will, muss die Konzeption für weitere Hilfen neu ausgerichtet werden. Die einfache Fortschreibung des Finanztransfers auf weitere 30 Jahre, wie der Kanzler dies mit den Ministerpräsidenten der neuen Länder avisiert, ist dagegen ein politischer Offenbarungseid. Der Osten wird auf Dauer das subventionierte Stiefkind bleiben.
Es ist ein politischer Skandal, dass die großen Parteien in dieser zentralen politischen Frage bisher konzeptionslos agieren. Vor einer Fortschreibung der Hilfe für die neuen Bundesländer – die notwendig ist – muss eine Debatte über Grundsätze geführt werden. Dies ist die Aufgabe der Parteien. Wenn diesen die Kraft oder die Ideen hierzu fehlen, müssen die Anstöße von außen kommen.
NICOLAUS SCHMIDT
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