(Un)feine Unterschiede

Die Suche nach der richtigen Schule wirft hässliche Fragen auf: Kommen die ausländischen Mitschüler aus den richtigen Ländern? Haben die Lehrer eine DDR-Ausbildung? Sind sie gar ausgebrannt?

von BARBARA DRIBBUSCH

Es klingt wie eine Verschwörung, wenn sich Eltern über das Thema unterhalten: „Sagt bloß nichts weiter!“, „Wir fragen erst mal noch die Z.s, wie die das sehen“, „Wenn Vera und Fabian aufs Gymnasium wechseln, sackt das Niveau sowieso schon ab!“ In der Grundschulklasse von Svenja Schulte spielen die akademischen Eltern mal wieder das beliebte Berliner Spiel: Welche Schüler bleiben nach der vierten Klasse, wer verschwindet aufs Gymnasium? Und sollte meine Kleine da mitziehen?

Keiner redet gern über das Thema“, sagt Svenjas Mutter Monika Schulte*, „aber alle denken das Gleiche: Wenn die guten Schüler abhauen, soll mein Kind nicht mit den Langsamen zurückbleiben.“ Das elterliche Misstrauen ist typisch für die Berliner Schullandschaft: Je vielfältiger das Schulangebot, je krasser die sozialen Unterschiede in manchen Vierteln, desto mehr haben Eltern Angst, ihrem Kind nur die zweitbeste Schulbildung zu bieten. „Der Stress hat zugenommen“, sagt Ulrich Thöne, Vorsitzender der Lehrergewerkschaft GEW in Berlin. Die Ängste, den eigenen Nachwuchs nicht optimal zu fördern, werden in Berlin durch einige Besonderheiten angeheizt: Den hohen Ausländeranteil in manchen Vierteln, die Ostwestkluft und die sechsjährige Grundschule.

In der Regel können Kinder in Berlin erst nach sechs Jahren Grundschule auf eine weiterführende Schule wechseln. Wer seinen Nachwuchs schon nach vier Jahren aufs Gymnasium schicken will, muss auf eines der so genannten grundständigen Gymnasien zurückgreifen. Da diese Schulen aber laut Berliner Gesetz eine Ausnahme darstellen sollen, dürfen sie grundsätzlich kein Englisch oder neuere Sprachen als erste Fremdsprache anbieten. Die Folge: Wer seinen Nachwuchs schon früh aufs Gymnasium schicken will, muss zusehen, wie der sich dann durch das Latinum quält.

„Es ist absurd: Manche Eltern behaupten plötzlich, Latein als erste Fremdsprache sei vielleicht doch ganz sinnvoll“, klagt Schulte. Die altsprachlichen privaten grundständigen Gymnasien Canisius-Kolleg oder das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster können sich vor Bewerbern kaum retten. Plötzlich erscheint es vielen AkademikerInnen wieder verlockend, den Nachwuchs mit Kindern aus der gleichen Schicht in kleinen Klassen humanistisch bilden zu lassen.

Schulte will ihrer Tochter aber weder das Latinum noch lange Busfahrten zur Schule zumuten: „Svenja geht weiter in die Grundschule.“ Auch die besten Freundinnen wechseln nicht. „Dann bleibt die Zusammensetzung doch erhalten.“ Die soziale Zusammensetzung – genau darum geht es auch Tausenden anderer Eltern in Berlin.

Nicht nur akademisch gebildete deutsche Eltern sorgen sich heute um hohe Ausländeranteile in den Klassen. „Auch manche bildungsorientierten türkischen Eltern klagen, dass ihre Kinder im Unterricht zu wenig lernen, weil zu viele verschiedene Nationalitäten in der Klasse vertreten sind und die meisten Kinder kein Deutsch können“, schildert Rita Hermanns, Sprecherin der Senatsschulverwaltung.

In manchen Grundschulklassen in den Berliner Bezirken Kreuzberg oder Wedding lernen zu achtzig Prozent ausländische Kinder, sie kommen aus Rumänien, dem Libanon, der Türkei, Polen oder Russland. Wenn aber erst mal Grundkenntnisse in Deutsch vermittelt werden müssen, geht die Alphabetisierung nur schleppend voran. „Wer sein Kind nicht in eine solche Klasse schicken will, ist noch lange nicht ausländerfeindlich“, betont Hermanns. Die deutsch-türkische Europaschule in Kreuzberg etwa hat nicht zuletzt deshalb guten Zulauf, weil hier das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken quotiert ist: fifty-fifty.

Viele Eltern ziehen in eine andere Gegend, weil ihnen die Schulsituation vor Ort nicht behagt. Andere melden sich pro forma um, damit sie ihr Kind bei einer anderen als der nächst gelegenen Grundschule anmelden können. Wer trotzdem sein Kind eisern in die nächste Schule schickt, erlebt mitunter kuriose Situationen.

Monika Schultes Freundin Anja Baumann etwa schickte ihre Tochter Nadine unverdrossen sechs Jahre lang in die nächste Grundschule im Weddinger Kiez. Der Lehrer war voll des Lobes über Nadines Leistungen und schwärmte von deren sozialem Verhalten. Später, als sie aufs Gymnasium wechselte, fragte Baumann den Lehrer mal so nebenbei, was er denn mit dem eigenen Nachwuchs gemacht hätte in einer ähnlichen Situation. „Na, den hätte ich schon längst auf eine andere Schule gegeben“, versicherte der Lehrer im Brustton der Überzeugung. Baumann fiel es wie Schuppen von den Augen: Ihre Tochter war all die Jahre auch als Integrationshilfe gebraucht worden.

Letztlich zeigt sich bei der Schulwahl der soziale Druck, unter dem Eltern und Kinder stehen“, meint Thöne. Deswegen ist Ausländer nicht gleich Ausländer: Auf Status und Nation kommt es an. Deutsche Eltern, die ihr Kind etwa in die private British School nach Berlin-Charlottenburg zum Unterricht schicken, schwärmen davon, dass ihr Kind hier schon mit acht Jahren Englisch spricht und nette KameradInnen aus Diplomatenfamilien kennen lernt.

„Die englischsprachigen Schulen sind beliebt“, so Hermanns, „schließlich sind diese Sprachkenntnisse im Rahmen der globalisierten Wirtschaft gefragt.“ So sieht sich die John-F.-Kennedy-Schule jedes Jahr einem Ansturm von Bewerbern gegenüber. Wenn die internationale Mischung den Duft der weiten Welt verströmt und nicht nach sozialem Absturz riecht, steigen die Bewerberzahlen.

Schwer haben es aber auch Schulen, die angeblich noch den Mief der alten DDR verbreiten. Zum Beispiel die Grundschule in Kleinmachnow, südlich von Berlin. Viele Westberliner zogen in das grüne Dorf, weil die Häusermieten hier noch vertretbar und die Grundstücke bezahlbar sind. Die dorfeigene Grundschule aber hat bei ihnen keinen guten Ruf. „Die Schule ist einfach zu ostig, autoritär, fantasielos“, umreißt Anja Baumanns Bekannter Robert Lobeck. Eine Nachbarin hat es ja versucht mit ihrem Sohn und der Schule. Doch nach kurzer Zeit nahm sie ihn wieder heraus: „Die Kinder mussten aufstehen, wenn die Lehrerin hereinkam.“ Also fahren die Kinder jeden Morgen in den nahen Berliner Bezirk Zehlendorf.

Auch Lobeck musste seinen Wohnsitz pro forma in Zehlendorf anmelden, um Tochter Charlotte in der Zehlendorfer Grundschule unterzubringen. Jeden Morgen wird die Tochter umständlich per Auto in die Zehlendorfer Grundschule gekarrt. Dort sitzen in einer Klasse mit 24 Kindern allein elf, die tatsächlich in Kleinmachnow wohnen. Kein Wunder, dass Berlin von Brandenburg jetzt eine Ausgleichszahlung will, weil einige tausend Umlandkinder in den Großstadtbezirken beschult werden.

Nicht zu viele ausländische Kinder, und bitte nur die richtigen, und möglichst keine älteren Ostlehrer – bei einer solchen Vorauswahl können sich akademische Westeltern allerdings auch ins eigene Fleisch schneiden. „Auch in Zehlendorf können sie an eine ausgebrannte Schule geraten, an der die Lehrer kaum noch motiviert sind“, gibt GEW-Chef Thöne zu bedenken. Gleiches gilt für die Mitschülerschaft. Es gibt durchaus Grundschullehrer, die von eifrigen türkischen Schülerinnen in Berlin-Moabit schwärmen und nach ihrer Versetzung nach Zehlendorf über anspruchsvolle Eltern, verwöhnte Mittelschichtskinder und ein lustloses Kollegium stöhnen.

„Im Grunde“, sagt Monika Schulte, „müsste man sich jede Schule vorher genau angucken.“ Aber auch jeden Lehrer und jede Lehrerin. Engagierte Eltern schleichen auf Schulfesten herum, hören auf jedes Gerücht, stöbern auf den Internetseiten des Berliner Landesschulamts. Doch auch wenn die passende Schule gefunden ist, kann es passieren. „Peng, man gerät an einen schlecht motivierten Lehrer, und dann nützt auch die beste Schule nichts“, sagt Thöne. Gute LehrerInnen sind immer auch Glückssache. Das war früher nicht anders.

* Alle Namen auf Wunsch geändert

BARBARA DRIBBUSCH, 43, ist taz-Inlandsredakteurin, Schwerpunkte: Soziales, Rente