: Küsse trotz Tränensäcken
Wahre Lokale (35): Der schmale „Sorgenbrecher“ in Hamburg-St. Pauli
Der „Sorgenbrecher“ liegt am Ende des Hamburger Berg, einer etwas dunkleren Seitenstraße auf St. Pauli, die von der quietschebunten Reeperbahn abgeht. Ein schmaler Laden, in dem sofort an der langen Theke landet, wer einen Schritt durch die Tür getan hat. Und wer hier vorn keinen Platz mehr ergattert, muss sich – um nicht draußen zu bleiben – rechts entlang zwischen Tresenhockern und Zigarettenautomat hindurchquetschen und landet dann im hinteren Teil der Kneipe. Wie eine Reling ziehen sich dort in Ellbogenhöhe rundherum um den wenige Schritte langen und noch weniger Schritte breiten Raum Bretter, auf die man Flaschen und Gläser abstellen kann. Hier muss stehen, wer nicht einen der raren Hocker ergattern konnte.
Höhlenmalerei auf Putz
Es wird Flaschenbier und Schnaps gereicht, zu Essen gibt es nichts, und die Wände sind kahl. Nur einige wenige wie verblichene Höhlenmalereien wirkende Bilder norddeutscher Landschaften und des Hamburger Hafens sorgen für Lokalkolorit, vor Jahrzehnten direkt auf den Putz gezeichnet. Der „Sorgenbrecher“ war vor vielen Jahren eine dieser proletarischen Eckkneipen, die mit dem letzten Stammgast zu Grabe getragen wurden. Wie in einem besetzten Haus fühlte ich mich, als ich das erste Mal in dem unmöblierten, „entkernten“ Laden stand. Eine Kneipe, bestimmt nur noch so lange geöffnet, bis die letzte Flasche geleert, die letzte Kippe ausgetreten worden ist. Das aber stellte sich als eine schier endlose Arbeit heraus, und so gibt es den „Sorgenbrecher“ immer noch.
Man geht vor allem hin auf einen letzten, großen Schluck, bevor man in den wenige Meter entfernt haltenden Nachtbus springt – ein Standortvorteil für den „Sorgenbrecher“, der lange geöffnet hat. Oft versackt man hier, führt grundlegende Gespräche darüber, ob man lieber in Kneipen geht, in denen kleine, dicke, braune Flaschen Bier oder in solche, in denen lange, schlanke, grüne Flaschen Bier verkauft werden. Und dann irgendwann, ganz zufällig, wird man von der Tresenbesatzung registriert, bekommt ein Gesicht und läuft nicht mehr unerkannt wie unter einer Taucherglocke herum. In Kneipen wie dieser ist so etwas ein Ritterschlag.
Bei mir kam der in einer dieser Nächte zum Sonntag, im Winter vor einigen Jahren, als über dem Kiez wieder einmal Busladungen von Kegelclubs ausgeschüttet waren und die adoleszierende Schülerschaft ausgiebig durch den Rotlichtbezirk streifte. Ich fand, spät von irgendwoher kommend, Platz am Tresen. Und zwar mit dem Rücken zum Fenster, zwei Plätze von der Ecke entfernt, an dem die Theke einen Knick macht und parallel zur Türe verläuft. Der beste Platz, um die hin- und herwogenden Drängeleien der Ankömmlinge mit den Anwesenden zu beobachten.
Knick in der Theke
Der Laden ist rappelvoll, und herein kommen auch ein paar Halbwüchsige, die sich anschicken, ihr mitgebrachtes Dosenbier in der hintersten Ecke – kurz vor dem Klo – auszutrinken. Links neben mir sitzt ein Kollege der Barfrau. Ich glaube, er hatte ihr gerade ein paar Aspirin vorbeigebracht. Sie weiß nicht, was tun mit der Dosenbierfraktion da hinten. Gar nicht erst ignorieren oder sofort hinauswerfen? Ob nicht einmal der Kollege hingehen und nach dem Rechten schauen könne? Der wiederum fragt mich, was ich tun würde? „Ich würde solange auf deinen Drink aufpassen“, sage ich und bekomme für die Antwort die volle Punktzahl.
Es wurde eine lange Nacht, aber ich kann mich nicht mehr an viele Einzelheiten erinnern. Irgendeine Frau hielt mich für ihren Kunstprofessor, und ihre Freundin bestand darauf, mich „trotz deiner Tränensäcke“ zu küssen. Irgendwann waren nur noch die Belegschaften der umliegenden Kneipen da, um ihren Feierabend zu begießen und ich immer noch mitten drin. Ich wankte zur Tür, als es hell wurde, sie war längst von innen abgeschlossen. Seitdem, so bildete ich mir ein, habe ich im „Sorgenbrecher“ reichlicher eingeschenkt bekommen, wenn ich auf die Frage „Wie immer?“ mit „Ja“ geantwortet habe. Mehr wurde aber nur noch selten geredet, und ich war auch lang schon nicht mehr dort. SÖNKE JAHN
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