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Das Ausbeutungswunder

aus Genf ANDREAS ZUMACH

Barbara Judd ist eine so genannte Perma-Temp. Seit sechs Jahren – also schon ziemlich permanent – arbeitet die Computerspezialistin Fulltime beim Software-Riesen Microsoft in Seattle. Judd hat einen der rund 20 Millionen Jobs, die im Zuge des viel gepriesenen US-Wirtschaftsbooms der 90er-Jahre entstanden sind. Zugleich ist Frau Judd nur eine der 6.000 temporären unter den rund 20.000 Microsoft-Beschäftigten. Denn ihren Arbeitsvertrag hat sie nicht direkt mit Bill Gates’ Unternehmen, sondern mit einem der zahlreichen von Microsoft beauftragten „Subcontractors“, einer Zeitarbeitsfirma. Die von dieser Firma für Microsoft verpflichteten MitarbeiterInnen – durchweg hoch qualifizierte High-Tech-Spezialisten – haben keine Möglichkeit zur Gründung eines Betriebsrats oder anderen Formen gewerkschaftlicher Interessenvertretung gegenüber Microsoft.

Die zunehmende Praxis von Unternehmen, Arbeitsplätze über Subcontractors anzubieten und damit die nationale Arbeitsrechtsbestimmungen zu unterlaufen, ist eine der zahlreichen, zumeist verschwiegenen Schattenseiten im Wirtschaftswunderland USA. Die in Washington ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat sie jetzt erstmals systematisch untersucht. Fazit der Untersuchung, die heute, am Vorabend des „Labour-Day“, veröffentlicht wird: In den USA wird in großem Ausmaß gegen die völkerrechtlich verbindlichen Kern-normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die beiden UNO- Menschenrechtspakte von 1966 verstoßen, deren Einhaltung Washington im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) immer wieder vehement von anderen Staaten – insbesondere des Südens – verlangt.

Millionen von Beschäftigten in den USA wird laut Human Rights Watch das Recht verweigert, sich gewerkschaftlich zu organisieren, mit den Unternehmen über Löhne und Arbeitsbedingungen zu verhandeln oder zu streiken. Die Regierung und der Kongress in Washington „vernachlässigen ihre völkerrechtliche Pflicht, diese Rechte zu schützen und für ihre Durchsetzung zu sorgen“, kritisiert HRW. Daher seien Washingtons ständige Aufforderungen an andere Staaten zur Verbesserung von Arbeits-und Sozialbedingungen „Heuchelei“ und „wenig glaubwürdig“.

Der 217-seitige HWR-Report basiert auf Recherchen in Kalifornien, New York, Florida, Illinois und fünf weiteren US-Staaten sowie auf Daten der Regierung und der Nationalen Kommission NLRB, die für die Überwachung der Einhaltung von Arbeits- und Gewerkschaftsbestimmungen zuständig ist. Erfasst wurden sämtliche Sektoren der US-Wirtschaft – Industrie, Dienstleistungen, Landwirtschaft, Güter- und Personenverkehr – und alle Größenordnungen von Unternehmen vom Software-Riesen Microsoft bis zur Zehnpersonenbetrieb.

Während Computerspezialistin Judd wegen des derzeitigen Booms in der Branche auch ohne gewerkschaftlichen Schutz und Interessenvertretung wenigstens einen weit überdurchschnittlichen Lohn erhält, muss Traubenpflücker Juan Alvarez in Arizona mit weniger als dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn auskommen. So wie hunderttausende andere Farmarbeiter. Das ist Folge einer außerhalb der USA kaum bekannten „Altlast“ aus dem bis heute gültigen nationalen Arbeitsgesetz von 1935.

In diesem nach Streiks und Gewerkschaftsgründungen in den großen Industriebetrieben vom Kongress verabschiedeten Gesetz wurden Beschäftigte in der Landwirtschaft, in privaten Haushalten und anderen Sektoren – zumeist mit niedrigen Löhnen – ausdrücklich vom Recht auf gewerkschaftliche Organisation, Verhandlungsfreiheit und Streik ausgeschlossen. Wer in diesen Wirtschaftssektoren den Versuch macht, einen Betriebsrat zu gründen, kann fristlos gekündigt werden. Von diesem gesetzlichen Ausschluss sind mindestens 20 Millionen der derzeit rund 135 Millionen abhängig Beschäftigten in den USA betroffen.

Arbeitsgesetz von 1935

Das Arbeitsgesetz von 1935 wurde bis heute nicht revidiert, obwohl es inzwischen seit über 30 Jahren in klarem Widerspruch zu völkerrechtlichen Verpflichtungen der USA steht: Den beiden von Washington ratifizierten UNO-Menschenrechtspakten von 1966 , in denen das Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit festgeschrieben wurde, sowie den aus diesem Grundrecht in den 70er-Jahren abgeleiteten Kernarbeitsnormen der ILO. Die USA haben diese Normen zwar bis heute nicht ratifiziert, sind auf Grund ihrer ILO-Mitgliedschaft aber ebenfalls daran gebunden.

In den Wirtschaftssektoren, die unter das Arbeitsgesetz von 1935 fallen, sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad infolge der gewerkschaftsfeindlichen Politik der Präsidenten Reagan und Bush bis Mitte der 90er Jahre auf einen historischen Tiefstand. Wiederbelebungsbemühungen der Gewerkschaften stoßen seitdem auf erschwerte Rahmenbedingungen. Rekordhöhe hat inzwischen die Zahl der Beschäftigten erlangt, die wegen gewerkschaftlicher Organisationsbemühungen gesetzeswidrig gekündigt werden oder andere illegale Sanktionen durch ihre Arbeitgeber erfuhren

Allein die Zahl der Fälle, in denen Beschwerden gegen diese Sanktionen zu Rügen der Arbeitgeber durch die Überwachungskommission NLRB führen, stieg bis 1998 auf 24.000 (von wenigen hundert Mitte der 50er Jahre über 6.000 1969 und 20.000 Anfang der 90er Jahre). Ein Vielfaches beträgt nach Schätzungen der NLRB die Zahl der illegalen Sanktionsfälle, mit denen die Betroffenen überhaupt nicht bis zu der inzwischen völlig überlasteten Kommission vordringen. Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen sitzen die Arbeitgeber in Folge der in den 80er-Jahren erheblich zu ihren Gunsten veränderten Gesetze und Verfahrensregeln fast immer am längeren Hebel. Sie verschleppen Prozesse über gesetzwidrige Kündigungen von Gewerkschaftsaktivisten über Jahre, während derer die Gekündigten weder Lohn noch irgendeine gesetzliche Unterstützung erhalten.

Einer der Opfer ist Leonard Williams, bis vor vier Jahren Pfleger im Altenwohnheim Palm Garden in Miami. Im April 1996, kurz vor einer von ihm und anderen Gewerkschaftsaktivisten betriebenen erstmaligen Wahl eines Betriebsrates wurde Williams fristlos gekündigt. Zur Rechtfertigung legte die Leitung von Palm Garden gefälschte, vordatierte Abmahnungen an Williams wegen seiner „Gewerkschaftsumtriebe“ vor. Auf Williams’ Beschwerde hin ordnete die NLRB zwar bereits 1997 seine Wiedereinstellung und die Nachzahlung des Lohnes an. Palm Garden legte Widerspruch ein. Seitdem ist das Verfahren vor Gericht anhängig und Williams arbeitslos. Ebenso wie 1.000 Beschäftigte der Oregon-Stahlhütte in Colorado, die im Oktober 1997 einen Streik für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen begannen. Das Unternehmen ersetzte sie durch 1.000 Streikbrecher von außen und stellte die früheren Beschäftigten auch nach Beendigung ihres Streiks nicht wieder ein. Gegen eine entsprechende Anweisung des zuständigen Gerichtes legte das Unternehmen Beschwerde ein. Das Verfahren kann noch Jahre dauern.

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