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Armut ist nur ein Gefühl

von MAIKE RADEMAKER

Fast hätte der Bericht diesmal ganz anders ausgesehen. Nicht die übliche Mixtur aus Wachstumsglauben und Resignation gegenüber der wachsenden Armut in der Welt, sondern mit einem kritischeren Ansatz. Um ihren „Millenniumsbericht“ zur Armut schreiben zu lassen, hatte die Weltbank im Frühjahr 1998 den Ökonomen Ravi Kanbur eingeladen, das Autorenteam zu leiten. Der gebürtige Engländer Kanbur, damals Professor an der Cornell University, nahm an. Seinen Arbeitgeber kannte er gut, immerhin hatte er acht Jahre für die Weltbank als Berater gearbeitet.

Ein Jahr lang betreute Kanbur den Weltentwicklungsbericht, der wie keine andere Publikation Einfluss auf entwicklungspolitische Strategien weltweit hat. In einem Brief an den Koordinator der weltbankkritischen Organisation „Bretton Woods Project“, Alex Wilks, schrieb er: „Als Erstes und Wichtigstes möchte ich betonen, dass ich hinter jedem Bericht stehen werde, unter den ich meinen Namen setze.“ Auf Anfrage Kanburs organisierte das Bretton Woods Project gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine elektronische Konferenz über den ersten Entwurf des Berichts im Januar dieses Jahres. 1.523 Menschen aus 80 Ländern diskutierten auf dieser E-Konferenz den Entwurf.

Im Mai wollte Kanbur die abschließenden Empfehlungen überarbeiten. Einen Monat später wurde bekannt, dass Kanbur noch im Mai die Bank unter Protest verlassen hatte und an seine Universität zurückgekehrt war. In einem Brief an das Management der Bank äußerte er Besorgnis darüber, dass auf verschiedene Kapitel in unzumutbarer Weise Einfluss genommen wurde, und Befürchtungen, dass die Endversion eine unakzeptable Aussage treffen würde. Anders geagt: Es wurde von anderen Leuten darin herumgeschrieben, und es wurde Unliebsames gestrichen.

Die New York Times kommentierte den Rücktritt kritisch: „Der Bericht ist extrem einflussreich unter Ökonomen, und die Version Mr. Kanburs hat die reibungslose Anpassung aller Entwicklungsländer an den Kapitalismus in Frage gestellt.“ Die Weltbank fand Kanburs Kündigung bedauerlich, seine Befürchtungen allerdings „unbegründet“.

„Unser Traum: Eine Welt frei von Armut“, schwärmt die Weltbank auf ihrer Homepage. Zum dritten Mal hat sich die größte internationale Entwicklungsbank nun mit diesem Traum beschäftigt. Dieser dritte Weltentwicklungsbericht zum Thema Armut ist nicht weniger deprimierend als die vorangegangenen von 1980 und 1990. Das Fazit ist kurz: Auch wenn in einigen Ländern die Anzahl der Armen abgenommen hat, ist der Trend zu wachsender Ungleichheit geblieben. Das globale Ziel der Vereinten Nationen, bis 2015 die Zahl der Armen um die Hälfte zu reduzieren, kann mit der derzeitigen Entwicklung nicht erreicht werden. Die Armen haben immer noch keine Stimme, wenn es um ihre Bedürfnisse geht.

Von den 6 Milliarden Menschen auf der Welt leben laut der Bank 2,8 Milliarden von weniger als 2 Dollar pro Tag und 1,2 Milliarden mit weniger als 1 Dollar. Aids, zivile Konflikte und „wachsende Unterschiede zwischen reichen Ländern und der sich entwickelnden Welt haben das Gefühl von Mangel und Ungerechtigkeit bei vielen erhöht“. Doch die Autoren des Berichts sind zuversichtlich, dass noch „größere Reduzierungen“ dieses „Gefühls“ namens Armut möglich sind.

Das Kompendium der Aktivitäten zur Armutsbekämpfung, die die Bank in dem Bericht erörtert, war schon Teil der Berichte von 1980 und 1990: Wirtschaftswachstum müsse her, und zwar eins, dass den Armen zugute kommt, und dafür müssen diese Zugang zu den Märkten bekommen. Neu ist allerdings, und das ist Kanburs intensiven Konsultationen mit NGO-Vertretern und Armen überall auf der Welt zu verdanken, dass von der Notwendigkeit geschrieben wird, Armen eine Stimme zu geben und sie zur Selbstbestimmung zu befähigen: Empowerment. Staatliche Institutionen sollen danach mehr Verantwortung zeigen für arme Menschen und soziale Barrieren beseitigen, die Frauen, ethnische oder sozial benachteiligte Gruppen ausgrenzen. Gleich ein ganzes Kapitel haben die Autoren dem Begriff „Empowerment“ gewidmet. So erörtern sie das so offensichtliche Problem, dass selbst die beste Gesetzgebung eines Landes den Armen nicht hilft, wenn diese sie nicht anwenden können: Weil sie sie nicht kennen, weil sie nicht lesen können, weil sie sich in dem Rechtssystem nicht zurechtfinden. In mehreren Ländern wurden nun erfolgreich Rechtshilfeprojekte durchgeführt.

Bei ihrem plakativen Optimismus, dass Wachstum das A und O für Entwicklung sei, bleibt die Bank trotzdem, auch wenn es einige zögerliche kritische Aussagen darüber gibt. Ein tatsächlicher „übergreifender Erfolg“ der Wachstumsstrategie als Beitrag zur Armutsbekämpfung könne nicht resümiert werden, aber es gebe „ermutigende Indikatoren dafür“, wie etwa das Sinken der durchschnittlichen Inflationsrate.

Den Beitrag der Entwicklungshilfe zur Armutsbekämpfung stellt der Bericht in leicht hilflos anmutender Kritik in Frage, weil sie offenbar nicht so funktioniert, wie die Weltbank das gern hätte. Da heißt es etwa: „Wenn all die Hilfe, die Sambia zwischen 1961 und 1994 bekommen hat, in produktive Investitionen gegangen wäre und diese Investitionen so wichtig für das Wachstum gewesen wären, wie ursprünglich vorhergesagt, dann hätte das Pro-Kopf-Einkommen in dem Land 1994 bei 20.000 Dollar gelegen und nicht bei 600.“ Die Autoren wissen auch, woran Entwicklungshilfe so oft scheitert: Die Projekte seien so, wie sich das die Geber wünschen, und nicht im Sinne der Empfängerländer. Außerdem fehle es an Koordination: In Mosambik habe es einmal allein im Gesundheitssektor 405 Projekte gegeben, in Tansania seien 2.000 Projekte von 40 Gebern finanziert worden.

Dass aber überhaupt kritische Töne in dem Bericht auftauchen, ist laut Alex Wilks der Kündigung Kanburs zu verdanken. „Der Bericht hätte natürlich anders ausgesehen, wenn Kanbur dabei geblieben wäre und man seine Version akzeptiert hätte. Aber durch seinen Weggang geriet die Bank ins Rampenlicht und sah sich gezwungen, kritische Aussagen beizubehalten – auch wenn Wachstum immer noch die Basis ist.“ Wenn die Bank ihre eigenen Erkenntnisse über mangelnde Selbstbestimmung der Armen ernst nähme, sei schon viel gewonnen. „Das wird sie aber nur unter Druck tun“, erklärte Wilks, der nächste Woche ebenfalls zur IWF- und Weltbanktagung nach Prag fahren wird.

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