: Bloß kein Fehler, Genosse General!
Die DDR, ein Heimatmuseum aus Stasi-Loden, Volksgut und VEB-Betriebsfeiern. In „Die Stille nach dem Schuss“ bebildert Volker Schlöndorff ein deutsches Terroristinnenschicksal – und macht die RAF endgültig zur Bildungsbürgertrophäe. Auf der Strecke bleibt einmal mehr die leidende Frau
von DIETRICH KUHLBRODT
Wolfgang Kohlhaase (69), Drehbuchautor der „Stille nach dem Schuss“, hatte 1947 als 16-Jähriger angefangen zu schreiben – im (Ost-)Berliner Start, dann in der FDJ-Zeitung Junge Welt, als Feuilletonchef. Seine kürzeste Filmkritik ist berühmt. Sie ist zwei Sätze lang: „Die Hauptdarstellerin heißt Lotte Koch und filmt. Besser wäre, sie hieße Lotte Film und kochte.“
Auf seine alten Tage hat er nichts vom Wortwitz und den schlagenden Pointen verloren. In Volker Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“ ist das Leben in der DDR auf den Punkt gebracht, auf viele Punkte; der Film versammelt Aphorismen zur Lebensweisheit im realen Sozialismus. Das knallt im Dialog; die Tonspur bringt unerlaubtes Amüsement, gar schrägen Witz und immer viel Wahres. Aber Kohlhaase, der Regie führen kann („Solo Sunny“), hat jetzt nicht Regie geführt. Es ist Schlöndorff (61), der Langweiler, der die brillierende Verbal-Phänomenologie der DDR witzlos und platt-professionell bebildert hat; auf die Ausnahme kommen wir gleich.
Um jetzt nicht mit einem 200 Sätze langen Verriss der Regieleistung zu langweilen, bringe ich (67) es auf folgenden Doppelpunkt: Schlöndorff verfilmt Kohlhaase. Besser wäre, wenn er schlön im Dorff geblieben wäre.
Aua, aber so geht’s. Wir können jetzt über die richtigen Sätze im falschen Bild plaudern. Und dazu brauchen wir den Film, genauer: den Mittelteil. Das Leben in der DDR, wie es sich darstellt für die Frau, die aus dem Westen kommt und nicht Inge Viett ist, wie wir von ihr selbst wissen, wohl aber die Schauspielerin Bibiana Beglau, die eine RAF-Kämpferin spielt, die in der DDR untertaucht.
Die Geschichte der Terroristin ist mäßig interessant; der Film bedient die gängigen Klischees. Die Frauen der Roten Armee Fraktion sind so verbohrt, dass sie den Film hindurch je zwei Zigaretten anrauchen; die zweite für den Genossen. Einmal in der DDR angelangt, werden wir aber weniger mit Nikotin als mit kabarettreifen Kohlhaase-Bonmots versorgt. Der Film hat damit den Handlungsfaden verloren; aber egal, wir sind da in einem Staat, den uns der wackere Schlöndorff als Heimatmuseum zeigt, und wir können uns einstellen auf diverse Bürger, die erklären, wie’s da zugeht. Beglau, die Protagonistin des Films, verhält sich durchgängig rezeptiv. Dass sie die Unterweisungen aufnimmt, erkennen wir an ihrem wehen, wissenden Blick. Und da der sich den lieben langen Film hindurch nicht ändert, brauchen wir uns auf nichts gefasst zu machen. Auch Stasi-Offizier Martin Wuttke findet in der „Stille nach dem Schuss“ keine Gelegenheit, seine Mimik einmal, nur ein einziges Mal zu ändern; aber er macht es brillant, prima ironisch und gesund zynisch.
Als Zuschauer brauchen wir nichts anderes zu machen als die Beglau: uns die DDR vorführen zu lassen. „Alles klar, auch Radeberger da.“ Wuttke und der StasiGeneral haben sich Lodenkostüme angezogen und schießen auf Wildsäue, die plakativ von ganz links nach ganz rechts durchs Bild laufen. Dialog: „Es kommt drauf an, dass wir keinen Fehler machen.“ – „So sehe ich es auch, Genosse General.“ Der Film bietet dem Publikum (der Beglau, uns) fehlerfreien Unterricht. Es wird auch gesungen, Volksgut: „Lieder haben uns begleitet; Rock 'n' Roll weniger.“ Aber Scherz beiseite: „Wir sind für die Leute. Deshalb sind wir gegen sie“, offenbart Stasi-Wuttke. Die Beglau antwortet mit dem Blick, den Sie sich hoffentlich gemerkt haben; sie lernt ihre neue Biografie auswendig. „Legende, was ist das? Dein falsches Leben, was jetzt das richtige wird.“
Es wird nicht richtig mit der Filmheldin und mit dem Film sowieso nicht. Schlöndorff bebildert so viel Falsches im richtigen Sozialismus, dass wir schier irre werden, gar Böses ahnen. Ziemlich am Anfang von „Die Stille nach dem Schuss“, beim DDR-Wehrsport, wird einem deutschen Schäferhund, „den wir nicht scharf gekriegt haben“, der Genickschuss gegeben. Ein Menetekel! Am Ende des Films wird unsere Heldin das Hundeschicksal teilen; wir wissen es schon vor ihr und teilen ihr Weh.
Bis es so weit ist und das vorbestimmte resp. dramaturgisch ersonnene Schicksal zuschlägt, findet unsere Heldin, die nicht Inge Viett ist (Inge Viett wurde weder in der DDR erschossen noch bisher sonstwo) – findet sie Trost in den Nischen, die die DDR bereithält. Das sind a) Grillen und Musik, b) unreglementierte Liebe, c) das Bad in der Ostsee.
Zu a) Betriebsfeier beim VEB Modedruck („Schon wieder ist die Maschine kaputt“); „Life is life la la lala la“ gibt das Signal. Jemand, der wie Nina Hagen singt oder sie ist, mahnt: „Die Seele aus dem Leibe rinnt“, und dann kommt der große Ausbruch; unvermutet reißt sich der Film aus der strukturellen Lethargie und strebt einem ekstatischen Höhepunkt zu. Es mag gewagt sein, eine Nische als einen solchen Punkt zu bezeichnen, noch gewagter ist es jedoch, wie unsere Ex-BRD-Heldin endlich! die Kontrolle über sich und ihren Blick verliert und ungezügelt die alkoholabhängige Arbeitskollegin Tatjana auf die Tanzfläche zerrt, und das unter Missachtung des strikten Gebotes, öffentlich nur geschlossen zu tanzen.
Zu b) Wir notieren, dass Schlöndorff sich zu einem Ausbruch aus seinem Film aufrafft. Endlich braucht die Beglau sich nicht mehr von wem auch immer belehren zu lassen. Sie will etwas („Ich will Tatjana!“), und sie passt sich nicht den Betriebsfeiersitten an (eigentlich hätte sie sich angucken müssen, wie ein geschulter Sänger im Fernsehen „What shall we do with the drunken sailor“ vorträgt).
Zu c) Mit dem Megafon ruft sie am Ostseestrand Kinder zurück, die schon 80 cm weit ins Wasser gegangen waren. Sie hat sich unter Kontrolle und wendet sich, dem ausgewogenen Filmplot folgend, einem Mann zu. Dieser heißt Alexander Beyer, und jeder, der „Die Stille nach dem Schuss“ sieht, kennt ihn schon längst aus der „Sonnenallee“. Alexander ist attraktiv; mit dem Badefoto wird jetzt jede Filmkritik illustriert, also auch diese, und wenn ich ich die Beglau wäre, würde ich schwach werden. Kohlhaase lässt den Neuen einen Aphorismus verlesen: „Das Neue ist das, was man nicht sieht“.
***
Halten wir inne. Was ist mit dieser Filmkritik passiert?
1. Wir haben den Film so ausführlich beschrieben, wie dieser die DDR beschreibt. Kohlhaase ist kompetent, Mitglied des PEN-Zentrums DDR und der Akademie der Künste der DDR, Nationalpreisträger, geehrt mit dem Banner der Arbeit, Stufe 1. Ich weiß, dass das bleibt; ich bin nach wie vor Kommandeur des Friedenssterns der ehemaligen Widerstandskämpfer in Europa.
2. Wir haben die Schwachstelle des Films nicht referiert: den Plot (RAF befreit Gefangenen, überfällt Bank, erschießt Bullen, fährt nach Beirut, fickt herum, streitet sich, geht auseinander).
3. Da die Beglau nur aus sich herausgeht, wenn’s um Frau zu Frau geht, haben wir herzlich wenig von ihren sonstigen Aktivitäten erfahren. Als Opfer-mit-dem-wehenden-wissenden-Blick hört sie stattdessen Schlöndorff, Kohlhaase und den anderen zu. Auch wenn sie Sätze zu sagen hat, ist sie in der „Stille nach dem Schuss“ ruhig gestellt. Sie ist in diesem Film (von der Beziehung mit Tatjana abgesehen) Frau, und sie ist Opfer. Konstruieren kann sie weiter nichts mehr, schon gar nicht ihre oder irgendeine Wirklichkeit. Die leidende Frau ist deutsches Schicksal und deutsche Filmästhetik. „Das Alte ist das, was man sieht“ (Kuhlbrodt). Schon in Veit Harlans „Opfergang“ (1942) wurde es erst richtig gut, schön und stimmungsvoll, wenn es nach dem Schuss still war resp. Kristina Söderbaum tot, weswegen, wir haben mittlerweile 1989/90, die RAF-Frau genauso liquidiert wird wie die komplette DDR. Abgewickelt wird sie (Frau, Staat) von der schlöndorffschen Bildbiederkeit; die RAF ist jetzt nichts mehr als Exponat und Trophäe deutscher Bildungsbürger.
Eine alte Vereinnahmungsstrategie. Jahre zuvor hatte Reinhard Hauff in „Stammheim“ Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe von der Amts- & Bühnensprache vereinnahmen lassen; das Leben war ihnen durch erlesene Farb- & Lichtregie ausgetrieben worden, doch war ihnen jetzt ein Ehrenplatz im bürgerlichen Weihespiel gesichert. Und: Draußen im Land blieb’s still und ruhig.
Vom neuesten Fall der Verinnerlichungsstrategien hat Katja Nicodemus vor zwei Wochen aus Venedig berichtet. In „Die innere Sicherheit“ geht Ex-RAF-Frau Barbara Auer (zusammen mit Richy Müller) auf den „Luxustrip eines aus der Geschichte gefallenen weltfremden Paares“, und Regisseur Christian Petzold „verwurstet den deutschen Terrorismus zu einer freischwebend-fantasmagorischen Geschichte“.
Äi, Schlöndorff, du kannst das doch; es ging doch in der „Stille nach dem Schuss“; da wollte die RAF-Frau was, da funktionierte der Film, an diesem Punkt, da lebte was: „Ich will Tatjana!“ – Wollte die Beglau-Frau eventuell noch mehr? Wo bleibt der Lärm nach dem Schuss? Irgendwo müssen sie doch geblieben sein. die Dezibel, sich Gehör zu verschaffen. Fassbinder hat vor immerhin schon 22 Jahren lebende Terroristen inszeniert („Die dritte Generation“), für die er damals gescholten wurde: „Subjektiv, unausgegoren, larmoyant, Schabernack“ (Lexikon des internationalen Films). Das klingt in der Tat nach Dissonanzen, Krach, Widerspruch und Ambivalenz, alles Vokabeln, die unseren stillen eindimensionalen Abräumern Schlöndorff, Hauff, Petzold fremd sind, aber ich will nicht die Stille, ich will den Lärm! – Nehmen wir ein Valium 10 und beruhigen uns. Denn es bleibt Kohlhaase, und der führt uns in der „Stille nach dem Schuss“, RAF hin, RAF her, unterhaltsam, nostalgisch und durchaus interessant durch die DDR-Alltagskultur der Siebziger- und Achtzigerjahre.
„Die Stille nach dem Schuss“. Regie: Volker Schlöndorff. Mit Bibiana Beglau, Martin Wuttke, Nadja Uhl, Alexander Beyer u. a. Deutschland 2000, 101 Min.
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