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Neumünsteraner Signale

Straße und Club 88 frei für Neonazis. Polizei fahndet gezielt nach Hamburger Antifaschisten und umstellt linkes Jugendzentrum  ■ Von Andreas Speit

Christian Worch ist erfreut. Keine antifaschistische Blockade und keine „Nazi raus“-Rufe störten am Sonnabendmittag den Hamburger Neonaziführer in Neumünster. Unter seiner Führung marschierten unter dem Motto „Solidarität mit dem Club 88“ etwa 470 Neonazis durch die Innenstadt. „Straße frei dem nationalen Widerstand“ brauchten sie diesmal nicht lautstark fordern.

Vor zwei Wochen musste die Einsatzleitung der Polizei die Neonazis bei ihrer ersten „Solidemonstration“ anweisen, den Rückzug anzutreten, da es zu Blockaden von Antifaschisten gekommen war. Diesmal aber gingen die Beamten massiv gegen die über 800 Gegendemonstranten vor, 1300 Polizisten schirmten die Marschroute ab.

Ungestört also konnte Peter Borchert, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung und versuchter Tötung, gegen den „demokratischen Rechtsstaat“ wettern und Thomas Wulff eine „Kumpanei zwischen Polizei, Stadtvertretern und Antifaschos“ beklagen, welche die Schließung des Nazizentrums im Stadtteil Gadeland anstreben. Beim Marschieren filmten und fotografierten mehrere Neonazis, darunter die Betreiberin des Clubs, Christiane Dolscheid, Journalisten und Antifaschisten.

Gegendemonstranten, die auf die Route der Nazis gelangten, wurden von der Polizei vorübergehend in Gewahrsam genommen. Aber auch andere wurden vorläufig festgesetzt. „Bei meiner Festnahme“, so ein Gegendemonstrant zur taz hamburg, „wurde mir mitgeteilt, dass ein Fahndungsbefehl gegen mich bestehe“. Die Beamten hätten auf ein Fax des Bundeskriminalamtes verwiesen, auf dem Namen von „gewaltbereiten Antifaschisten aus Hamburg standen“. Sie seien angewiesen worden, gegen diese per Platzverweis oder Ingewahrsamnahme einzuschreiten. Auf Nachfrage wollte die Polizeileitstelle Neumünster „keinen Kommentar“ dazu abgeben. Insgesamt nahm die Polizei 101 Personen vorläufig fest und leitete 17 Strafverfahren wegen Widerstandes gegen Beamte ein.

Am Vormittag hatte auf einer Kundgebung des „Bündnisses gegen Rechts“, die von Parteien, Gewerkschaften und Initiativen unterstützt wurde, Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) zum Neumünsteraner „Signal der Zivilcourage gegen Rechtsextremisten“ aufgerufen. Tufan Kiroglu vom „Verband Türkischer Vereine in Neumünster“ forderte zudem von „staatlicher Seite eine migrantenfreundliche Politik“, welche „die Menschen nicht auseinander treibt“.

Nachdem Worch seinen „Kameraden“ befohlen hatte abzutreten, brachte die Polizei diese in städtischen Bussen zum „Club 88“, wo sie ungestört feierten. Christiane Dolscheid hatte ein Zelt für ihre Gäste aufgebaut. Zwar hat die Stadt Neumünster ihr die Konzession entzogen, dagen läuft aber noch eine Beschwerde vor dem Verwaltungsgericht Schleswig, so dass der Club immer noch offen ist.

Gegen 16 Uhr umstellten Polizisten dafür das linke Jugendzentrum „AJZ“, da sie zwei Personen dort vermutete, die schweren Landfriedensbruch begangen hätten. Über eine Stunde ließen sie Besucher weder rein noch raus. Nach telefonischen Verhandlungen sah die Einsatzleitung von einer Stürmung aber ab.Weiterer Bericht Seite 7

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