: „Es besteht ein reales Risiko“
Mit Appellen an selbstlose Menschenliebe soll die Bereitschaft der Bevölkerung zur „Lebend“-Organspende gesteigert werden. Der Leipziger Psychologe Oliver Decker gibt Auskunft darüber, welche zwischenmenschlichen Konflikte auftreten können
Interview BETTINA RECKTOR
taz: Im Rahmen der so genannten Lebendspende dürfen inzwischen nur noch Organtransplantationen durchgeführt werden, wenn Spender- und EmpfängerInnen vorher durch einen Psychologen begutachtet werden. Wie ist diese gesetzliche Regelung zu erklären?
Oliver Decker: Mit dem Transplantationsgesetz von 1997 hat der Gesetzgeber auch für Personen, die nicht miteinander verwandt sind, die Möglichkeit der Transplantation eröffnet. Im Wortlaut sieht das Gesetz vor, dass „Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen“, Organe spenden dürfen. Das heißt, dass jetzt auch zwischen Freunden eine Organübertragung erlaubt ist. Durch eine Begutachtung, die seit Inkrafttreten der Durchführungsbestimmungen am 15. Juli 2000 vorgesehen ist, soll nun ausgeschlossen werden, dass es zwischen Spendern und Empfängern zu finanziellen beziehungsweise emotionalen Abhängigkeitsverhältnissen kommt. Eine Begutachtung soll unter anderem Klarheit darüber herstellen, welche Beziehungs- oder Familienkonstellationen vorfindlich sind, also wer der Spender ist, welche Position zum Beispiel der Empfänger in der Familie hat, welche Dynamik da zu erwarten ist. Im Gegensatz zur so genannten Leichenspende ist die besondere Situation hier ja, dass sich Spender und Empfänger kennen.
Wodurch könnte bei der Lebendspende eine emotionale Abhängigkeit zwischen Spender und Empfänger entstehen?
Das ist sehr vielschichtig. Als Beispiel kann folgende Situation dienen: Ein 14-jähriges Mädchen soll von ihrer Mutter einen Teil der Leber gespendet bekommen. Die Tochter ist bereits im Einzelgespräch sehr depressiv-melancholisch und kaum in der Lage, sich den Raum zu nehmen, den sie braucht. Die Mutter ist im Dreiergespräch dagegen sehr dominant und drängt die Tochter, wieder bildlich gesprochen, an die Seite. Im Gespräch wird deutlich, dass die Tochter versucht, sich aus der Beziehung zur Mutter zu lösen, sich unabhängig von ihr als eigenständiges Wesen zu definieren, was für eine reife Ich-Entwicklung auch notwendig ist. Und da kann der Spendewunsch der Mutter auch dahin gehend motiviert sein, diese dominante Beziehung gegenüber der Tochter aufrechtzuerhalten. Das würde dann, wenn man es im psychoanalytischen Bild belässt, die fortgesetzte, aggressive Penetration der Tochter durch die Mutter bedeuten. Die Tochter hätte dann nachhaltig keine Chance, sich aus diesem dann wirklich symbiotischen Verhältnis zu lösen.
Kann durch eine psychologische Begutachtung auch festgestellt werden, ob Erkrankte Verlobungen oder Ehen eingehen, um an Organe zu gelangen? Oder ob Erkrankte Freunden für die Spende eines Organs finanzielle oder sonstige Entschädigungen in Aussicht stellen?
Sie berühren hier den Rahmen der Möglichkeiten eines diagnostischen Gesprächs. Natürlich haben Psychologen immer nur den Einblick, der ihnen vom Gegenüber gestattet wird. Die Gesprächssituationen sind jedoch so gestaltet, dass viele Informationen über den Patienten zugänglich werden. Aber natürlich kann ein Psychologe eine geschickte bewusste Täuschung nicht wie ein Detektiv aufdecken. Die Absicht solcher Gespräche im Vorfeld einer Lebendspende dienen auch als Signal an die Patienten, dass man ihnen im Falle von Problemen zur Verfügung steht. Damit stellt die Begutachtungssituation einen ersten Kontakt zum Psychotherapeuten her. So ist die Schwelle niedriger, ihn im Bedarfsfall auch anzurufen.
Haben Sie bei der direkten Verwandtenspende festgestellt, dass durch das Absorbieren eines Körperteils von einem Familienmitglied plötzlich Probleme in der Familie auftauchen, die vorher nicht da waren?
Es ist zum Beispiel möglich, dass jemand, der innerhalb der Familie eine Randposition hatte, durch die Spende einer Niere mehr ins Zentrum rückt und sich dadurch auch andere Beziehungen verändern. Auch hier besteht die Gefahr, dass Konflikte nach der Transplantation über das Organ ausgetragen werden. Also dass beispielsweise die Vorgaben der immunsuppressiven Therapie nicht eingehalten werden oder dass das Organ unbewusst beschädigt wird, weil es innerhalb der Familie zu Konflikten mit dem Spender kommt.
Ein anderes Problem kann auftreten, wenn der Spender das Gefühl hat, dass der Empfänger Missbrauch mit seinem Organ treibt. Etwa weil der Empfänger nach der Transplantation einen anderen Lebensentwurf lebt, als es sich der Spender vorgestellt hat. Es kann dann dazu kommen, dass vom Spender zwar nicht bewusst, aber unbewusst ein Äquivalent für die Niere eingefordert wird, etwa in Form von Zuneigung, Dankbarkeit oder Versorgungswünschen.
Besonders im Zusammenhang einer familiären Abhängigkeit, die wegen ihrer kulturellen Verankerung schwer zugänglich ist, finde ich es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, in welche Situation potentielle Spender und Spenderinnen durch das Transplantationsgesetz geraten. In der Regel müssen sie nämlich nicht mehr begründen, warum sie spenden, sondern eher, warum sie es nicht wollen, da doch die Möglichkeit dazu besteht. Mit anderen Worten: Weil Gesetz und institutionelle Rahmenbedingungen die „Normalität“ der Spende schaffen, muss inzwischen die Abgrenzung, nicht aber die Spendebereitschaft begründet werden.
Was aber passiert, wenn eine Beziehung in die Brüche geht?
Das ist ein Punkt, der auch in der Vorbereitung angesprochen wird: Was wäre, wenn sich die Beziehung verändert? – Die Liebe zu einer Person bedeutet ja immer, dass die Grenzen zwischen dieser Person und mir verschwommen sind, dass zwischen „Ich“ und „Du“ nicht mehr so klar unterschieden wird. Und was in einer Trennung passiert, ist ja einerseits die Aufgabe eines Objekts, das ich so geliebt habe, dass es ein Teil von mir geworden ist. Andererseits erfolgt eine neue Grenzziehung von mir und damit einhergehend Trauer, Wut und Empörung darüber. Was nach einer Transplantation natürlich ein Problem werden kann, ist, dass die Verwobenheit sehr konkret geworden ist und sich die Trauer an etwas ganz Konkretes richten kann. Es gibt etwas, was der andere wirklich von mir mitnimmt oder ich von ihm behalte, in mir behalten muss.
Gibt es Konflikte, die Sie sowohl bei der Organspende unter Verwandten als auch unter Paaren und Freunden feststellen können?
Am ehesten gibt es Probleme, wenn das fremde Organ nicht gleich die Funktion aufnimmt, die es aufnehmen soll. Wenn die Niere nicht „anspringt“, kommt es beim Empfänger häufig zu Schuldgefühlen gegenüber dem Spender. Es ist ein Konflikt, einen wichtigen Menschen einer schweren Operation und damit einem gewissen Risiko auszusetzen. Zumal die Operation für den Spender überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, weil er ja eigentlich gesund war. Zur Sterblichkeit von Spendern bei Organentnahmen ist zwar noch nicht viel bekannt, aber es besteht ein reales Risiko. Die ärztlichen Kollegen diskutieren bei Spendern hier ein Verhältnis von zwei Todesfällen auf hundert Organentnahmen.
Welche Auswirkung kann die Einpflanzung eines fremden Organs auf die Ich-Wahrnehmung des Empfängers haben?
Ich denke, dass für einen Menschen die Aufnahme eines fremden Organs in jedem Fall eine Erschütterung darstellt. Die Transplantation ist zunächst einmal eine Destrukturierung, etwas fast Gewaltvolles. Nicht nur, weil die Ich-Grenzen, die durch den Körper repräsentiert sind, verletzt werden. Sondern auch, weil etwas Fremdes in mir zurückbleibt und damit eine neue Realität von Außen und Innen geschaffen wird, die in jedem Fall eine neue Form des Ich-Erlebens bewirkt. Am Beispiel der Transplantationsmedizin lässt sich daher gut beobachten, wie weitreichend die medizinisch-technische Entwicklung nicht nur für die gesellschaftliche Definition von Menschsein ist, sondern auch, wie sie die konkrete Subjektivität verändert, das Bewusstsein des eigenen Selbst – also das, was wir meinen, wenn wir „Ich“ sagen.
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