Schluss mit dem Geschwafel!

von JENS KÖNIG

Christa Wolf meinte es nur gut. Aber gerade das ist ja das Schlimme.

Auf einem Kongress für Redenschreiber vor ein paar Wochen in Berlin hielt die Schriftstellerin einen Vortrag über das Benennen und Verschweigen wunder Punkte des Gemeinwesens. Sie zitierte Gerhard Schröders mittlerweile legendären Lapsus im Bundestag, als der Kanzler über die wirtschaftliche Lage im Osten sprach, und sagte: Die in Ostdeutschland sind noch nicht so weit wie bei uns. „Ein solcher Satz“, so Christa Wolf in ihrer Rede, „hätte im Deutschen Bundestag, denke ich, zu einer aufrichtigen Debatte über den mentalen Stand der deutschen Einheit führen können, mit Rede und Widerrede, mit dem Bekenntnis zu den Fremdheitsgefühlen auf beiden Seiten, auch zu Zorn und Enttäuschungen, einer Debatte ohne Unterstellungen und mit dem Mut der Rednerinnen und Redner, ohne Rücksicht auf Fraktionszwang und auf die eigene Klientel ihre Meinung zu sagen.“

Wenn die Bundesrepublik eines nicht braucht, dann ist es eine solche Debatte!

Christa Wolf mag ja Recht haben mit ihrer Behauptung, dass man die wunden Punkte eines Gemeinwesens häufig daran erkennt, dass über sie öffentlich und intern geschwiegen wird. Man erkennt diese wunden Punkte manchmal aber noch viel deutlicher, wenn über sie zu viel geredet wird. In mittlerweile zehn Jahren ist aus der Debatte über die deutsche Einheit ein einziges großes Gerede geworden, eine automatische Textmaschine, die ununterbrochen Standpunkte und Diskussionsbeiträge ausspuckt, einer banaler als der andere: Ja, ja, dem Osten geht’s schon besser, aber er leidet immer noch daran, dass man ihm keinen Respekt entgegenbringt. Ja, ja, der Westen müht sich und macht und zahlt, aber die Welt da drüben, die versteht er deswegen noch lange nicht.

Schluss damit! Ende mit dem deutsch-deutschen Befindlichkeitsgefasel! Nie wieder ein Wort über die Mauer in den Köpfen! Keine Diskussion mehr über den mentalen Stand der deutschen Einheit, schon gar nicht im Bundestag!

Was kommt denn heraus, wenn Kurt Biedenkopf am 3. Oktober auf dem offiziellen Festakt zum zehnten Jahrestag der deutschen Einheit spricht? Nichts, jedenfalls nichts Neues, wahrscheinlich nicht mal Gescheites. Alles, was Biedenkopf zu sagen hat, hat er bereits gesagt, in einem Satz zwar nur, aber der hatte es in sich. Sein Minister Steffen Heitmann war gerade wegen einer Justizaffäre zurückgetreten, die der Datenschutzbeauftragte des Landes ins Rollen gebracht hatte, da beschimpfte der sächsische Ministerpräsident ebenjenen Datenschutzbeauftragten (und nicht etwa seinen Justizminister) mit den Worten: Was wolle man schon erwarten von einem Mann, der nicht in Sachsen lebe, sondern nur unter der Woche in Dresden arbeite und am Wochenende zu seiner Frau nach Koblenz fahre.

So viel aufrichtige Wahrheit über den mentalen Stand der deutschen Einheit wird man in keiner der unzähligen Reden zum 3. Oktober erfahren. Da wird geheuchelt, was das Zeug hält. Einen Vorgeschmack darauf gab Gerhard Schröder nach seiner Sommerreise durch Ostdeutschland. Welche Vorurteile über den Osten er nach seiner Reise über Bord werfen müsse, wurde Schröder gefragt. Die Antwort des Bundeskanzlers: Ich habe gar keine Vorurteile über den Osten.

Wie erfrischend dagegen ist doch der Hass, den viele ostdeutsche Sportler auf die westdeutsche Anti-Doping-Ikone Dieter Baumann haben. Als Baumann in Sydney in letzter Minute für die Olympischen Spiele gesperrt wurde, bekannten vier Gewichtheber aus dem Osten, das Urteil gehe schon in Ordnung. Sie wollten Baumann im Olympiadorf nicht begegnen. Nun sind Gewichtheber als Moralapostel in Sachen Doping ein Witz, und was die vier von sich gegeben haben, entbehrte jeder Sachkenntnis. Aber aufrichtig war’s. Ganz im Gegensatz zu Schröder.

Das Problem der ganzen verfahrenen deutsch-deutschen Debatte liegt wahrscheinlich in diesem öden Gerede von der inneren Einheit. In der anmaßenden Aufforderung an den Immobilienhändler in München und den Hafenarbeiter in Rostock, sich gegenseitig ihre Biografien zu erzählen, damit sie ihre Fremdheit überwinden. Aber vielleicht sollten sie sich ihr Leben besser nicht erzählen, sondern es für sich behalten. Vielleicht sollten Ost- und Westdeutsche nur dann miteinander reden, wenn sie Lust dazu und sich wirklich etwas zu erzählen haben. Aber das ist am allerwenigstens von unsere Herkunft, sondern nur von uns selbst und einem interessanten Gesprächsthema abhängig.

Diese permanente Aufforderung zum Biografienerzählen ist eine einzige Anstiftung zu politischer Korrektheit. Sie führt nur zu Vorsicht und falscher Rücksichtnahme. Zehn Jahre nach der deutschen Einheit dominiert in Westdeutschland heute oftmals ein freundliches Interesse am Osten. Aber eine weit verbreitete Ahnungslosigkeit lässt dieses Interesse hilflos wirken. Das wiederum erweckt im Osten den Eindruck, er werde nur deswegen toleriert, weil er dem Westen im Herzen doch egal sei. Statt Aufrichtigkeit herrscht Verwirrung.

Dabei wird die Suche des Westens im Osten von einer merkwürdigen Sehnsucht nach etwas Urwüchsigem bestimmt. Nach einer Ursprünglichkeit, die es im Westen schon lange nicht mehr gibt, nach Menschen, die sich nicht den Moden unterwerfen, die noch nicht kulturindustriell genormt sind. Bei dieser Suche versucht der Westen den Osten zu enträtseln. Dabei macht er aus ihm ein neues Rätsel, und zwar ein viel größeres, als er jemals war. Der Westen macht den Osten zu einem Produkt seiner eigenen Erfindung – und hält ihn damit weiter in seiner Abhängigkeit. Und der Osten macht die Erfahrung, dass es nicht das Gleiche ist, ob man bestaunt oder ernst genommen wird.

Soll der Westen ruhig bekennen, dass er mit den Ostdeutschen nichts anfangen kann. Er muss es ja auch nicht. Der Osten ist inzwischen doch langweilig geworden. Zehn Jahre lang hat sich alles um ihn gedreht. Der Osten war immer da, wo sich die Dinge änderten. Der Osten hatte immer die besseren Geschichten; sie handelten von Verrat, von Verzweiflung, von Hoffnung und von einer Welt, in der man noch unverkrampften Sex haben kann. Die Ostdeutschen haben so lange im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden, dass sie darüber ein bisschen arrogant geworden sind. Sie halten sich mittlerweile für einen Sonderfall der Geschichte.

Wir sollten am besten die nächsten zehn Jahre nur noch über Westdeutschland reden. Wir treffen da nämlich auf eine längst vergessene Welt. Sehr treffend hat das Mark Siemons vor kurzem beschrieben. Der Feuilletonkorrespondent der FAZ ist durch Westberlin flaniert und hat dabei festgestellt, dass der Begriff „Westberlin“ die völlige Umkehrung seines früheren Inhalts erlebt: Man denkt nicht mehr an Dominanz und Prosperität, wenn man ihn hört.

Siemons beschreibt das Epizentrum des alten Westens, das Europa-Center am Breitscheidplatz, über dem sich auch heute noch das Logo der freien Welt dreht, ein silberner Mercedes-Stern. Ansonsten erinnert nichts mehr an den einstigen Glanz dieses Platzes und seiner Umgebung. Stattdessen anachronistisch anmutende Läden, verwaiste Tanzlokale und eine Ruinenlandschaft mit einem Gebäudestumpf in der Mitte, die nach dem Abriss einiger großer Häuser übrig geblieben ist. „Es sieht nach Krieg aus“, schreibt Siemons, „so wie man sich früher den Ostblock vorstellte.“ Westberlin sei heute das, was früher der Osten war. Daran könne man erkennen, dass „Osten“ und „Westen“ keine Frage des ethnischen Ursprungs mehr seien: „Es hat eine wirkliche gegenseitige Durchdringung stattgefunden, die aber keine Ununterscheidbarkeit bewirkt hat, sondern eine neue Differenz: ‚Osten‘ ist, wo symbolische Konkurrenzen ausgetragen werden, ‚Westen‘ ist das Reich der neuen Freiheit, des Glücks, in einem noch ungedeuteten Raum zu leben.“

Das Tröstliche am zehnten Jahrestag der deutschen Einheit ist, dass es das vorläufig letzte Jubiläum dieser Art sein wird, das wir feiern. Wir sollten diesen Tag zum Anlass nehmen, das krampfhafte Gerede über die innere Einheit Deutschlands endlich zu beenden. Ertragen wir stattdessen lieber lässig die alten und neuen Unterschiede zwischen Osten und Westen. Mit dieser souveränen Haltung könnten wir den Zustand der deutsch-deutschen Normalität, den wir sonst immer nur einklagen, zum ersten Mal wirklich herstellen.

Und ab jetzt gilt: Kein Wort mehr davon.

Hinweis:Zehn Jahre lang hat sich alles um die Ostdeutschen gedreht. Sie halten sich schon für einen Sonderfall der Geschichte.