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Boliviens wütender Aufstand der Gesellschaft

Aufgebrachte Campesinos, Kokabauern und Lehrer bringen den Andenstaat zum Stillstand. Antworten weiß die Regierung nicht so recht zu geben

BUENOS AIRES taz ■ Bolivien steht still. Doch einer weiß sich zu helfen in der Not. Mit einer Luftbrücke zwischen den wichtigsten Städten Boliviens antwortete Präsident Hugo Banzer auf die Straßenblockaden des Landes. Täglich verkehren mehrere Flugzeuge der Streitkräfte zwischen den Haupthandelszentren Santa Cruz, Cochabamba und der Hauptstadt La Paz. An Bord haben sie Lebensmittel für die örtlichen Händler und immer wieder auch Passagiere, die nicht mehr zwischen den Städten reisen können. Seit über zwei Wochen legen Kokabauern, Campesinos, Lastwagenfahrer und Lehrer das Land lahm. Je nach Region versperren sie mit Felsbrocken, Baumstämmen oder brennenden Reifen die Straßen. Bei den täglichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Blockierern sind bislang zehn Menschen ums Leben gekommen.

Die Regierung schätzt, dass derzeit rund 180.000 Menschen festsitzen. In La Paz und anderen Städten haben sich die Lebensmittel verknappt und die Preise verteuert. Ein Kilo Karotten, das noch vor zwei Wochen für umgerechnet 50 Pfennig zu haben war, kostet heute fünf Mark. Etwa 30 Millionen Dollar Verluste soll Bolivien durch die Blockaden schon gemacht haben, rechnet die Regierung vor.

Die Situation ist jedoch festgefahren. Denn die Gewerkschaften wollen sich bei den Verhandlungen nicht mit billigen Versprechen abgeben. Und ihre Forderungen sind so verschieden wie ihre Herkunft. Die Kokabauern verlangen ein Ende der Vernichtung der Kokapflanzungen durch Polizei und Militär; die Lehrer, die im Schnitt nicht mehr als 100 US-Dollar verdienen, fordern eine Gehaltserhöhung von 50 Prozent, nachdem Banzer den Polizisten während des Ausnahmezustands im April dassselbe gewährte; und die Campesinos wollen weniger Wassersteuer bezahlen. Sie alle leiden an der wirtschaftlichen Stagnation und der wachsenden Armut in Bolivien. Banzers Anti-Armuts-Programm vom Juni, für das er 1,3 Milliarden Dollar Schuldenerlass gewährt bekam, hat daran nichts geändert.

In der Kokaanbauregion Chapare, nordöstlich gelegen von Cochabamba, der drittgrößten Stadt des Landes, begannen die Proteste. Etwa 40.000 Familien leben dort vom Kokaanbau. Bolivien ist weltweit der drittgrößte Kokaproduzent nach Peru und Kolumbien. Damit soll bald Schluss sein. 1998 stellte Banzer dazu mit Unterstützung der USA den Plan „Dignidad“ (Würde) vor, der keine Toleranz kennt. Bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2002 will Banzer jede Kokapflanze im Land vernichtet haben. Mit Pilzerregern, Hacke und Spaten ziehen Militär und Polizei gegen die Kokapflanze los.

Und nach dem Chapare will Banzer in den Yungas weitermachen, einer traditionellen, auf 6.000 Hektar bebauten Kokaregion. Seit Generationen bearbeiten dort Indigenas die Pflanze, und noch ist das legal. In ganz Bolivien wird Koka gekaut. Es hilft gegen Kopfschmerzen und Unwohlsein im 3.800 Meter hoch gelegenen La Paz, gegen Hungergefühl und Durst. Doch Banzer denkt überhaupt nicht daran, den Kokabauern wirklich entgegenzukommen. Die USA, Boliviens Partner in dieser Angelegenheit, würden das nicht akzeptieren. Mit dem Verzicht auf den geplanten Bau dreier Kasernen im Chapare zeigte der Präsident aber ein erstes Einlenken.

Immer lauter fordert dagegen der Unternehmerverband ein hartes Durchgreifen der Regierung. Die Preise sind im August um durchschnittlich 1,84 Prozent, bei Lebensmitteln sogar um 3,97 Prozent gestiegen. Jorge Valdez, Präsident des Unternehmerverbandes Santa Cruz, sagt: „Die Regierung muss sich überlegen, den Ausnahmezustand auszurufen.“ Damit wären sämtliche Aktivitäten der politischen Parteien untersagt, Gewerkschaftsversammlungen und Treffen von oppositionellen Gruppen würden für die Dauer von 90 Tagen verboten. Banzers Vorwurf, hinter den Aufständen stehe ein Komplott gegen ihn, trifft in einem Punkt sogar zu: Sämtliche Oppositionsparteien haben bereits Banzers Rücktritt gefordert. INGO MALCHER

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