: „Solidarität ist etwasanderes als Kumpanei“
mit Sigmar Gabriel sprach BETTINA GAUS
taz: Herr Gabriel, Sie werden aus mehreren Gründen – etwa Ihr jugendliches Alter von 41 Jahren und die Umstände Ihres Amtsantritts nach dem Rücktritt Ihres Vorgängers Glogowski – genauer beobachtet als viele Amtskollegen. Ist das angenehm oder störend?
Sigmar Gabriel: Es ist unvermeidlich. Es ist dann störend, wenn dabei Eindrücke entstehen wie zum Beipiel der, man werde als „Kronprinz“ oder Ähnliches aufgebaut. Das ist Quatsch, weil man politische Laufbahnen nicht planen kann und weil das alte Sprichwort gilt: Frühen Vogel fängt die Katz. Andererseits hilft es auch, wenn man seinen eigenen Bekanntheitsgrad, der ja für politischen Erfolg nicht unwichtig ist, damit steigern kann. Es hat Vor- und Nachteile.
Sie sind Vertreter eines nicht mehr allzu angesehenen Berufsstandes. Politiker leiden in der öffentlichen Wahrnehmung unter erheblichem Glaubwürdigkeitsverlust. Woran liegt das?
Ein Teil der Enttäuschung über Politik kommt daher, dass wir permanent versuchen den Menschen zu vermitteln, wir seien in der Lage, komplizierte Probleme mit einfachen Lösungen zu bewältigen. Wir versprechen, dass wir es schon richten werden. Hinterher stellen die Menschen fest, dass wir es nicht richten. Bei näherem Hinschauen ist das manchmal auch unmöglich. Die Politik sollte nicht versuchen, jedem Problem, das irgendwo auftaucht, innerhalb der berühmten 1 Minute 30 Sekunden eine Lösung entgegenzuhalten.
Aber ist der Glaubwürdigkeitverlust nicht auch darauf zurückzuführen, dass der Bevölkerung heute stärker als früher vermittelt wird, Probleme seien so komplex, dass man deren Lösung Fachleuten überlassen müsse, und die würden das dann schon alles regeln?
Das auch. Ich bin übrigens der Meinung, dass das eine der größten Illusionen ist. Politiker versuchen, selber Fachleute zu sein. Das ist ein Fehler. Politiker sind Generalisten. Spöttisch gesagt: Wir sind alle Universaldilettanten. Wir müssen Fachleuten zuhören. Aber die politische Entscheidung geht um den eingeschlagenen Weg und das Ziel, nicht um jeden einzelnen Schritt dahin. Die politische Kompetenz von Abgeordneten muss daraus bestehen, mit wachen Augen durch die Welt zu gehen und bereit zu sein, Kontakt aufzunehmen mit Schwierigkeiten, Aufgaben, Fragen und Ideen außerhalb der Parlamente. Sie übertragen genau das aber heute viel zu oft den Apparat.
Worauf führen Sie das zurück?
Auf die Mutlosigkeit, politische Richtungsentscheidungen zu treffen. Auch auf die wachsenden Schwierigkeiten, die Trittfestigkeit solcher Entscheidungen innerhalb der Parteien zu debattieren, weil die Sozialstruktur der Parteien nicht mehr die Sozialstruktur der Bevölkerung abbildet und deshalb die Trittfestigkeit da kaum noch überprüft werden kann. Auf den mangelnden Mut der Parteien, das zur Kenntnis zu nehmen und sich so zu öffnen, dass auch Menschen mitmachen können, die heute einen anderen Zugang zu Politik und Parteien finden als vor 30 Jahren.
Ist die wachsende Wirkung, die Rechtsextremisten derzeit erzielen, in diesem Zusammenhang zu sehen?
Rechtsradikalismus ist ein Problem des Kerns der Gesellschaft, auch wenn es sich an den Rändern äußert. Aus einem latenten Rechtsextremismus, den es auch früher schon gegeben hat, wird auf einmal die konkrete Aktion. Wie kommt es dazu? Offenbar hat sich das gesellschaftliche Klima verändert. Wenn der Kern der Gesellschaft eine Kultur entwickelt, in der nur shareholder value und technokratische Politikansätze von Bedeutung sind, und der Wärmestrom in die Gesellschaft hinein, den man auch braucht, verloren geht, dann gibt’s an den Rändern zentrifugale Reaktionen. Steuer- , Renten- und Gesundheitsreform sind wichtig. Aber das sind alles relativ kalte Projekte. Es gibt kein Projekt, das den Leuten sichtbar macht: Wir spielen hier eine Rolle.
Wie zufrieden sind Sie denn da mit Ihrem Parteifreund Otto Schily, dem Bundesinnenminister?
Ich glaube, dass er Recht hat, dass wir über das Thema Zuwanderung reden müssen. Die Frage ist: in welcher Sprache? Sprache drückt die Orientierung aus, und da bin ich nicht mit allem glücklich, was ich lese oder höre. Weder bin ich glücklich über Begriffe wie „durchrasste Gesellschaft“ des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, noch bin ich glücklich über eine Formulierung wie „das Boot ist voll“, die Schily benutzt hat. Ich bin zwar auch der Meinung, dass es keine unbegrenzte Aufnahmekapazität gibt. Aber wenn ich will, dass das als rationale Aufgabe von Politik debattiert wird, dann muss ich aufpassen, dass ich nicht einen emotionalisierten Sprachgebrauch benutze.
Sie gehörten vor einigen Jahren noch zu den parteiinternen Kritikern von Gerhard Schröder. . .
. . . das ist ein bisschen arg verkürzt.
Heute ist das jedenfalls nicht mehr der Fall. Was hat sich geändert: seine Politik oder Ihre Rolle?
Ich habe nicht zu den parteiinternen Kritikern gehört. Ich bin lediglich nicht der Meinung gewesen, dass nur einer im Land denken muss. Aber ich habe immer gesagt: Schröders eigentlicher Erfolg ist es, die SPD in die Mitte der Gesellschaft zurückgeführt zu haben, und zwar in die Mitte der Arbeitsgesellschaft. Natürlich muss man Politik für Minderheiten machen. Aber das kann man umso besser, je größer die Zustimmung der Mehrheit ist. Die SPD muss auch zuständig sein für diejenigen, die sonst nicht wahrgenommen werden, aber sie ist allemal auch zuständig für den Kern der Gesellschaft. In dieser Hinsicht halte ich Schröder für einen Traditionalisten.
Früher haben Sie sich dennoch gelegentlich mit ihm gefetzt. Jetzt ist davon nichts mehr zu hören.
Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Es gibt keinen Grund.
Alles prima?
In der Tat halte ich die grundsätzlichen Entscheidungen von Schröder und der Regierung im letzten Jahr alle für richtig, beispielsweise die Steuerreform und die Rentenrefom. Es gibt ein paar Punkte, in denen ich nicht seiner Meinung bin. Darüber diskutieren wir auch.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel über Fragen des Umgangs mit der PDS. Das hat im Westen eine andere Wirkung, als möglicherweise in Berlin vermutet wird. Wir holen uns damit eine Debatte an den Hals, die ich – zumindest für die Gesamtpartei – für überflüssig halte. Bei allem Verständnis für die besondere Situation ostdeutscher SPD-Politiker sehe ich keinen Grund, mit einer Partei in engere Beziehung zu treten, die ich in Teilen hinsichtlich ihrer Vorstellungen von law and order eher für rechtsextrem halte und die zumindest im Westen immer noch als Nachfolgepartei der SED gesehen wird.
Aber ist es nicht so, dass die Ausgrenzung einer Partei gerade Sozialdemokraten nicht gut zu Gesicht steht?
Das weiß ich nicht. Es geht doch nicht um Parteien als solche, sondern um die Frage, welche Parteien. Der Parteitag in Cottbus war für mich eher ein Rückschritt innerhalb der PDS und nicht ein Schritt nach vorne. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi und der frühere Parteichef Lothar Bisky haben deutlichere Worte zur innerparteilichen Situation gefunden als ihre Nachfolger. Außerdem ist Sarah Wagenknecht von der Kommunistischen Plattform in den Vorstand gewählt worden. Es ist für mich nicht logisch, für innerparteilichen Pluralismus einzutreten und diejenigen einzubeziehen, deren Positionen mit unseren Vorstellungen von der Verfassung wirklich nichts zu tun haben. Ich denke, dass die PDS nach dem Abgang von Gysi und Bisky versucht hat, irgendein anderes Thema zu finden, das für die Öffentlichkeit interessant ist. Das ist die Annäherung an die SPD. Innerparteilich hat das Gegenteil stattgefunden, nämlich die Integration der Postkommunisten.
Fällt Ihnen noch ein Beispiel ein, wo Sie mit Schröder nicht einer Meinung sind?
Spontan?
Ja.
Ich hielt die Sanktionen gegen Österreich für falsch.
Sie galten früher als Parteilinker. Heute treten Sie dafür ein, dass die Solidarsysteme der Sozialversicherungen in stärkerem Maße als bisher durch private Vorsorge ergänzt werden. Haben Sie sich verändert oder die Verhältnisse?
Es wäre verlogen, wenn ich nicht sagen würde: beides. Es ist keine Erfindung des internationalen Großkapitals, dass die Abgaben und Steuerbelastungen gerade für mittelständische Unternehmen in Deutschland zu hoch sind. Und dass man sich als 20-Jähriger radikaler mit bestimmten Fragen auseinandersetzt, als Ältere das tun, ist hoffentlich auch in Zukunft noch so.
Welche Bedeutung hat die SPD für Sie?
Jedenfalls mehr, als nur eine Organisation zu sein. Die SPD ist für mich auch ein Stück emotionale Heimat. In fast allen Fällen außer bei der Bewilligung der Kriegskredite 1914 hat sich die SPD auf die Seite der Richtigen geschlagen, jedenfalls nicht auf die Seite von Folter, Diktatur und Unterdrückung. Auf die Mitgliedschaft in einer solchen Partei stolz zu sein, das ist eine emotionale Frage. Ich habe kein folkloristisches Verhältnis zur Arbeiterbewegung.
Genau das haben Sie Ihrer Partei aber in einem Interview unterstellt.
Ja. Aber ich habe deshalb keines, weil ich weiß, dass sich mit dem Singen von Arbeiterliedern heute weder die Menschen begeistern lassen, noch spiegeln die Texte die Realität des Jahres 2000 wider. Trotzdem ist die Tradition der Arbeiterbewegung eine, der ich mich verpflichtet fühle.
Warum haben Sie das dann in diesem Interview gesagt?
Weil ich mich manchmal ärgere, wie die SPD mit Begriffen wie zum Beispiel Solidarität umgeht. Solidarität heißt Verantwortung übernehmen: für sich und – so hat man früher gesagt – für seine Klasse. Das ist etwas anderes als Kumpanei und auch etwas anderes als Sozialhilfepolitik. Das Zahlen von Sozialhilfe kann unsolidarisch sein, wenn man Menschen über das Programm dieses Systems dazu erzieht, keine Arbeit mehr aufzunehmen. Und so etwas gibt es in Deutschland. Es gibt allerdings auch den viel schlimmeren Fall des Sozialmissbrauchs, nämlich durch diejenigen, die alle Leistungen unseres Staates in Anspruch nehmen, aber möglichst viel Geld vor der Steuer verbergen wollen. Diese Leute verhalten sich asozial.
Nimmt in Deutschland die Bedeutung von Parteien insgesamt ab?
Für das Alltagsleben der Bevölkerung hat sie abgenommen. Diese Bedeutung wird sich nur wiederbeleben lassen, wenn es den Parteien gelingt, sich für einen anderen Zugang zu Politik zu öffnen, also für einen Zugang, der nicht über Milieus kommt und der nicht lebenslang sein muss. SPD-Geschäftsführer Franz Müntefering hat damit begonnen. Auch wenn er möglicherweise damit erst einmal gescheitert ist – es ist trotzdem der richtige Weg. Ich halte überhaupt nichts von diesem Quatsch mit „Urwahlen“ von Parteilosen. Ich bin auch skeptisch gegenüber Plebisziten. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass Müntefering Recht hat, dass wir Menschen die Chance geben müssen, zu uns zu kommen und aktiv Politik zu machen, ohne dass sie vorher zwanzig Jahre Mitglied und fünf Jahre zweiter Kassierer gewesen sind. Wenn wir das nicht schaffen, wird die Partei wirklich nur noch zu einer Organisation, die Wahlen organisiert und Personal rekrutiert.
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