: Nach dem Kursverlust
Die neuen Erzähler sind die Aufsichtsräte und Analysten: Als Anhängsel der New Economy findet der Literaturbetrieb im Electronic Media Center der Frankfurter Buchmesse zurück zur epischen Form
von KOLJA MENSING
Vor sechzehn Jahren tauchten die ersten Bildschirme an den Ständen der Frankfurter Buchmesse auf: Als Sinnbild des Überwachungsstaats sollten sie auf die in jenem Jahr sehr populären Neuausgaben von George Orwells Science-Fiction-Roman „1984“ aufmerksam machen.
Diese Zeiten sind vorbei. Inzwischen gehört es längst zum guten Ton, zu Beginn der Buchmesse stets auf das immer größer werdende Segment der elektronischen Medien hinzuweisen. Mehr als ein Drittel aller Aussteller, so wurde in diesem Jahr stolz verkündet, haben bereits elektronische Medien im Angebot: Hell, hochaufgelöst und flimmerfrei erscheint in Frankfurt die Zukunft an sich – und insbesondere die der Buchbranche.
Zugleich scheint sich aber auch die Einsicht durchzusetzen, dass diese Zukunft von ihrem Personal einiges verlangen könnte. So widmet sich das Electronic Media Center der Buchmesse in der Halle 4.0 unter dem Schlagwort „new jobs“ den neuen Techniken und Arbeitsplätzen in der Medienbranche. Die Angst vor einem orwellschen Überwachungsstaat, der seine Bürger mit Kameras und anderen avancierten Techniken kontrolliert, ist der Sorge gewichen, den Anschluss an den technischen Forschritt zu verlieren. Oder schlimmer noch: den Anschluss an den wirtschaftlichen Fortschritt.
Dienstag, 17. 10., Börsenschluss: Dax 6541,71; Nemax 50 4330,28; Nasdaq 3213,96
Im ersten Drittel dieses Jahrhunderts war viel von einer Krise des Erzählens die Rede. Der Roman als vorherrschende literarische Form der Neuzeit, stellte Walter Benjamin im Anschluss an Georg Lukács und seine „Theorie des Romans“ fest, habe der „mündlichen Tradition“ des Epos gänzlich entsagt: In der Moderne, in der sich nichts erzählen lässt, was nicht auch nachgeprüft werden könnte, ist kein Platz für Geschichtenerzähler.
Walter Benjamin hatte diese Entwicklung mit der Erfindung des Buchdrucks und später dann mit den neuen Ausdrucksmedien Film und Fotografie in Zusammenhang gebracht. Eigentümlicherweise endet der „Kursverlust des Erzählens“ gerade dort, wo der technische Fortschritt der Literatur am nächsten ist: Die schönsten Geschichten nämlich hört man in diesen Tagen wie einst auf den vormodernen Marktplätzen auf den Panels in der Halle 4.0 der Frankfurter Buchmesse.
Amerikanische Startup-Unternehmer berichten dort vom unermesslichen Reichtum, der im E-Commerce begründet liegt, die Geschäftsführer der großen Online-Buchhandlungen erfinden den Versandhandel immer wieder neu, und jeder kennt noch einen abenteuerlichen Weg, auf dem ein Werk in digitaler Form durch die Mobilfunknetze und Glasfaserleitungen seinen Leser erreichen soll. Daneben wird wortreich die Zukunft des Buches besungen: als E-book, Book-on-demand oder Non-book.
Munter fabulieren die neuen Erzähler im Electronic Media Center wie in den großen epischen Zeiten von dem, was sich niemals wird nachprüfen lassen. Einiges wird sich sicherlich eines Tages erledigt haben. Doch dann wird man so viel Neues zu erzählen haben, dass die alten Prognosen längst vergessen sind. Bestand hat allein das Auf und Ab der Aktienkurse.
Mittwoch, 18. 10., Börsenschluss: Dax 6483,00; Nemax 50 4330,28; Nasdaq 3171,56
Die Literaturwissenschaftler der nahen Zukunft werden Anleihen beim Vokabular der Börsensprache machen und als Erstes die „equity story“ in das Verzeichnis der epischen Formen aufnehmen. In der „equity story“ legt ein Unternehmen, das an die Börse geht, seine längerfristigen Strategien fest – eine Geschichte also, die Aktionäre, Analysten und Risiko-Kapitalgeber gleichermaßen fesseln und beeindrucken soll.
Im Fall des Eichborn Verlages musste man auf diese Geschichte lange warten. Zum Börsengang des Frankfurter Unternehmens im Mai diesen Jahres gab es keine besonders umfassenden Erklärungen – niemand konnte so recht sagen, warum der Verlag eigentlich in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden sollte. Das Papier war dann auch umgehend auf zwölf Euro gesunken, auf weniger als die Hälfte des Emissionspreises also. Am vergangenen Dienstag stand es dann bei 5,21 Euro.
Am Donnerstag hatte das lange Warten ein Ende: Der Vorstand von Eichborn gab bekannt, das Unternehmen werde sich nach dem Erfolg mit „Das kleine Arschloch“ in Zukunft verstärkt um den Filmmarkt und um Merchandising kümmern. Ein weiterer Buchverlag solle ebenfalls dazugekauft werden.
Letztere Meldung hätte vor einigen Jahren auf der Buchmesse noch für Aufgeregtheiten auf den Messegängen und bei den Stehempfängen gesorgt. Doch auch diese Zeiten sind vorbei. „Sie können als Buchverlag nicht an die Börse gehen“, erklärte Christian Neuber vom Comic- und Zeitschriftenverlag Dino Entertainment AG auf der Buchmesse: „Wenn ich die Fantasie meiner Anleger anregen will, muss ich ihnen schon eine andere Geschichte erzählen.“
Donnerstag, 19. 10, Börsenschluss: Dax 6619,43, Nemax 50 4544,22, Nasdaq, 3418,60
In den übrigen Hallen der Buchmesse tut man sich schwer mit den Geschichten, die die Buchhändler, Verleger und Multimedia-Unternehmer an den digitalen Lagerfeuern gleich nebenan im Electronic Media Center so euphorisch vortragen. Misstrauisch beobachtet man das Treiben in der Halle 4.0 und schmückt die eigenen Stände eher hilflos mit Ratgebern zum Thema E-Commerce und Karriereplanung, Neuer Markt und Management-Theorie.
Neben den klassischen Ratgeberverlagen möchten jetzt auch die literarischen Häuser von den neuen Erzählungen profitieren. „Menschen, Medien, Märkte“ heißt eine neue, modisch ausgestattete Reihe der DVA, die neben dramatischen Einblicken in die Welt der „Computersklaven“ zum Beispiel „E-Business für alle“ verspricht – Titel, die so zeitgemäß sind, dass sie vermutlich schon wenige Tage nach dem Erscheinen keine Geschichte mehr zu erzählen haben.
Natürlich gibt es auch noch die anderen Bücher auf der Messe, die beständigen Bücher, von denen der polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski während seiner Eröffnungsrede mit einem Zitat von Georg Lukács gesprochen hatte: Bücher, die die Erinnerung an die mythischen Zeiten aufbewahren, „für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist“.
Das verständige Publikum seufzte, doch im Grunde genommen ist die Wehmut, mit der der Außenminister sprach, nicht vonnöten. Es ziehen ja neue, mythische Zeiten auf. Die Karten werden andere sein, doch man wird genauso unermüdlich in ihnen lesen wie einst im Nachthimmel. Der Kurs der Eichborn-Aktie betrug am Freitagabend übrigens 5,70 Euro. Gegenüber dem Vortag ist das ein Wachstum von 3,36 Prozent.
Freitag, 20. 10., Börsenschluss: Dax 6580,89; Nemax 50 4466,89; Nasdaq 3505,00
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen