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Parasiten

Ansichten eines Experten

von GABRIELE GOETTLE

Theodor Hiepe, em. Univ. Prof., Dr. sc. med. vet., Dr. hc., ehem. Leiter d. Lehrstuhles und Wissenschaftsbereiches Parasitologie a. d. Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin d. Humbold-Uni. Berlin, 90–93 ordentl. Prof. an der Freien Uni. Berlin (im Rahmen d. Fusion d. Fakultäten). Dr. med. vetl. 1953. Nebenamtl. Cheftierarzt am Zoolog. Garten Leipzig; Aufbau des Schafherden-Gesundheitsdienstes d. Landes Sachsen. Habil. 1958. 1960 Berufung z. ordl. Prof. a. d. Lehrst. f. Parasitol. u. Vet. med. Zoologie d. Veterinärmed. Fak. d. Humboldt-Uni. Berlin, 1970 Erricht. e. Forschungslaborat. f. Ektoparasitenbekämpf. i. d. Mongolei a. d. Humb.-Uni. Berlin (–1990). Erh. zahlr. Ausz., darunter d. Orden „Banner der Arbeit“ 70, Oskar-Röder-Medaille 85, Hufeland-Medaille i. Gold 89, Müssemeier-Medaille 93, Rudolf-Leuckart-Medaille 2000. Mitgl. d. Dt. Akademie d. Naturforscher Leopoldina 80 (seit 87 Senator), 1. Vizepräsident d. Weltverein. d. Veterinärparasitologen (87–93), Mitglied d. Akademie d. Wissensch. d. DDR 88, Mitglied (u. Gründungsmitglied) d. Berlin-Brandenburg. Akademie d. Wissensch., Ehrenmitglied versch. Gesellschaften. Herausgeber d. Lehrbuches der Parasitologie, 4 Bd., u. d. Lehrb. Schafskrankheiten. Verf. zahlr. wiss. Veröffentl. u. Buchbeiträge. Wiss. Film über Hypodermose (Defa 1964) Mitherausgeber d. Berl. Münchn. „Tierärztl. Wochenschrift“. Theodor Hiepe wurde am 3. 7. 1929 in Weimar/Thür. geb., verh., 4 erw. Kinder. Zwei Parasiten wurden ihm zu Ehren nach ihm benannt: Eimeria hiepei (Parasit d. Nerzes) 72, Madathamugadia hiepei (Parasit d. südafr. Gockos) 99.

err Professor Hiepe lud uns zu einem kleinen Vorgespräch in sein ehemaliges Institut ein. Es liegt in Berlin Mitte, unmittelbar neben der Charité, auf einem campusartigen, nun weitgehend verlassen daliegenden Gelände. Unser Gastgeber, ein jugendlich wirkender alter Herr, empfing uns mit überraschender Freundlichkeit am Pförtnerhäuschen und zeigte uns ein wenig das schöne alte Gelände: „Das ist alles ein Komplex, was Sie hier sehen, es war ursprünglich der Parforce-Garten des Königs, und seit über 200 Jahren befand sich dann hier die Veterinärmedizinische Fakultät. Es war ja ursprünglich vorgesehen, beide Fakultäten zusammenzulegen, aber an der Humboldt-Universität. Leider ist dann doch anders entschieden worden, aus unverständlichen Gründen, es wäre alles da gewesen – ich meine, auch für die Studenten. Nun ist es ein guter Platz für Spekulanten, um im Marktwert zu sprechen: 3,3 Milliarden Mark Grund- und Bodenwert ...“

Herr Hiepe hat noch eine Gastprofessur und ein Arbeitszimmer an seinem ehemaligen Insitut, das nun Institut für Molekulare Parasitologie heißt. Dieser Lehrstuhl ging ausnahmsweise an die Humboldt-Universität zurück. Herr Professor Hiepe lächelt viel, oft auch etwas melancholisch. Im tadellos aufgeräumten Arbeitszimmer stehen die Dissertations- und Habilitationsarbeiten seiner Schüler, feierlich gebunden in einem eigenen großen Regal. Unter anderem erfahren wir auch etwas über die antiken Wurzeln des Begriffs „Parasit“, der, aus dem Griechischen übersetzt, so viel wie „Bei-Esser“ bedeutet. Der antike Parasit war eine Art Kultbeamter und Vorkoster beim Gastmahl, später einer, der mitessen durfte, ohne eigentlich dazuzugehören, dafür mit Scherzen und Schmeicheleien zu Diensten sein musste. Im 4. Jh. v. Chr. wurde er Gegenstand der griechischen Komödie als feststehende Figur, war Prahler, Intrigant, komische Figur und Mitesser zugleich und ist als Komödienfigur auch von den Römern übernommen worden.

Eine Woche später fahren wir hinaus nach Köpenick. Das Haus von Herrn Hiepe liegt in Spindlersfeld, inmitten einer kleinen Siedlung von Einfamilienhäusern, in einer ruhigen Straße. Nicht weit davon entfernt ist die Köllnische Heide, fließt die Spree vorbei. Der Hausherr empfängt uns salopp und über die Maßen freundlich, führt uns ins Wohnzimmer und ins offen sich anschließende kleine Arbeitszimmer. Die Regalbretter biegen sich unter den Lehrbüchern. „Ab und zu drehe ich sie einfach um“, sagt er lachend. Auch hier, ebenso wie in seinem Institutszimmer, beherrscht ein mit wohlgeordneten Utensilien bestückter Schreibtisch den Raum. Ein schönes Pferdchen aus dunklem Metall schmückt ihn. Bilder an den Wänden zeugen von der Freude des Hausherrn und seiner Gattin – die sich übrigens entschuldigen ließ – an der Malerei. Er zeigt uns zwei mit Seidenpapier geschützte japanische Tuschezeichnungen. Die interessantere von beiden, ein Zweikampf zwischen Frosch und Hase, scheint ein Sprichwort darzustellen. Leider kann uns Herr Professor Hiepe aus dem Stehgreif nichts weiter über Alter und Bedeutung des Bildes erzählen, er müsste nachsehen, wir erfahren aber, dass er am Wochenende den ehemaligen japanischen Minister für Forschung und Bildung zu Besuch hatte und dieses Gastgeschenk erhalten habe.

Im Wohnzimmer ist eine gastliche Kaffeetafel für uns gedeckt. Zuerst soll der vergnügliche Teil kommen, danach die Arbeit, sagt Herr Hiepe und zeigt auf die Wand: „Das sind übrigens zwei meiner Kinder, in jungen Jahren.“ Über der Anrichte hängt ein Ölgemälde, es zeigt ein etwas steif dasitzendes Mädchen mit Zöpfen und Buch auf dem Schoß. Das zweite Bild hängt über der Couch, ein lesender Knabe mit aufgestütztem Kopf ist zu sehen, nebst einem Veilchenstrauß. Das daneben hängende, kleinere Bild zeigt Schafe unter einem blühenden Baum. „Das Bild mit der Sonnenblume“, sagt unser Gastgeber und deutet zum Eingang seines Arbeitszimmers, „war übrigens mein erstes, das ich mir mit meinen damals recht schmalen Mitteln gekauft habe.“

Später, als wir zum „Arbeiten“ hinüberwechseln in die Sitzecke, werden wir noch einmal auf ein Bild aufmerksam gemacht, es zeigt einen großen alten Bauernhof. Herr Hiepe setzt sich bequem und beginnt zu erzählen. Er entstammt einer alteingesessenen thüringischen Bauernfamilie. Die Laufbahn als Hochschullehrer wurde ihm nicht in die Wiege gelegt, er erinnert sich seiner Herkunft sehr genau, und ohne sie zu verklären, schätzt er auch ihre Nachteile: „Ich bin da hineingewachsen, mit all den Unbequemlichkeiten und all der Vielfalt – schaun Sie, die Tiere müssen früh gefüttert werden, sonntags und werktags, bevor sie gemolken werden. Das erfordert Selbstdisziplin, Verantwortung, man nimmt einen gewissen Arbeitsrhythmus an.“

Die zweite prägende Sache waren die Jahre als Fahrschüler. Jeden Tag um halb fünf aufstehen, fünf Kilometer auf bergigem Gelände zu Fuß gehen, dann mit der Bahn fahren. „Ich stehe heute noch früh auf. Geprägt hat mich natürlich auch, dass ich an meinem 16. Geburtstag aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde – die ganze Klasse war ja geschlossen als Fronthelfer an den Niederrhein geschickt worden. Aber trotz allem ... später habe ich dann Veterinärmedizin studiert und bald promoviert, 1953, an der Karl-Marx-Universität Leipzig, ja ... und mit 28 Jahren, am 22. 5. 58, habe ich habilitiert, also ziemlich früh“, er lacht, „ich hatte irgendwie ohne Probleme meinen Arbeitsrhythmus gefunden, meine Lebenseinstellung und natürlich meine Einstellung zum Tier. Das verdanke ich dem Bauernhof, drum sage ich immer, die jungen Leute müssen auch mit der Praxis vertraut gemacht werden. Ich wollte ja eigentlich Landtierarzt werden, blieb aber in der Stadt hängen, sozusagen, wurde nebenamtlicher Cheftierarzt im Zoologischen Garten Leipzig. Ein Traum für jeden Veterinär. Ich habe Löwen operiert, habe beim Fasan die Tuberkulinprobe gemacht und bekam dann eine, von den Elefanten übertragene Pockeninfektion, die mich vorübergehend blind machte und ins Krankenhaus gezwungen hat.“

Herr Hiepe ist ein lebhafter Erzähler, er blickt uns abwechselnd an, lächelt viel. Seine Sprechweise hat oft etwas Begütigendes, ab und zu nimmt sie einen feierlichen Tonfall an, wirkt stets sehr kontrolliert und lässt nur selten eine Spur von Dialekt durchs Hochdeutsch schlüpfen.

Herr Hiepe gründete noch in seiner Leipziger Zeit einen Schafherdengesundheitsdienst, der später für die gesamte DDR verbindlich wurde. 1960, im Alter von 31 Jahren, wurde er als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Parasitologie und Veterinärmedizinische Zoologie der Humboldt-Universität Berlin berufen. Die rapide Entwicklung und Intensivierung der so genannten Tierproduktion brachte eine Menge von Problemen hervor, auch parasitologischer Art. Es mussten neue Strategien und Programme entwickelt werden.

Innerhalb von nur vier Jahren (65–69) konnte Herr Professor Hiepe die Hypodermose des Rindes – auf die im Anschluss näher eingegangen wird – vollkommen zum Verschwinden bringen und damit jährliche Schäden bei der Rohhaut-, Fleisch- und Milchproduktion von 150 Millionen Mark. Dafür bekam er den Orden „Banner der Arbeit“ Stufe 1. Sein Institut leistete führende Forschungsarbeit, auf deren Grundlage Normative und gesetzliche Entscheidungen für die Parasitenbekämpfung in der DDR getroffen wurden. 1970 gründete er an seinem Institut ein Forschungslaboratorium für Ektoparasitenbekämpfung in der Mongolei.

„Der Parasitismus als Lebensform“, sagt Herr Hiepe, „das ist also mein Gegenstand, mit dem ich mich, nicht nur theoretisch, sondern auch von der angewandten Seite her intensiv beschäftigt habe. Aber was ist das, ein Parasit? Ich habe beim 1. Weltkongress der Parasitologen an die zehn Großen diese Frage gestellt. Jeder sagte etwas anderes. Eine treffende Definition muss aber sein, es genügt nicht zu sagen, es ist ein Organismus, der einen Wirt hat, auf dem er lebt, sich ernährt und fortpflanzt. Das Hauptkriterium ist der schädigende Einfluss, den er auf den Wirt ausübt. Er ist ein Parasit nur dann, wenn er schädigt – also ich meine jetzt nicht den ökonomischen Schaden –, nein, es geht um den Wirt. Parasitismus repräsentiert das Gegeneinander. Nehmen Sie so etwas allseits Bekanntes wie die Schildzecke, den Holzbock, diese Art hat sich zu einem Blutsauger entwickelt, ist auf Blut angewiesen, saugt es als Parasit aus einem Wirtsorganismus – sei es nun eine Maus, ein Rind oder ein Mensch – bei diesem Vorgang entzieht sie Blut. Aber nicht nur, denn es können auch gefährliche Krankheitserreger mit dem Speicheldrüsensekret, das das Blutsaugen vorbereitet, übertragen werden. Ebenso ist es bei der Malaria, der Toxoplasmose oder auch der afrikanischen Schlafkrankheit, auch hier findet die Übertragung des Erregers beim Blutsaugen statt. Oder nehmen Sie die Gruppe der parasitischen Würmer, die vor allem junge Tiere – und auch Menschen – befallen, sie entziehen dem Wirtsorganismus Nährstoffe und schädigen ihn auf vielfältige Weise. Es kann vorkommen, dass sie sogar den Tod des Wirtes verursachen, in der Regel aber ist das nicht im Sinne des Parasiten, denn so würde er ja einen Suizid begehen, letzten Endes.

Oder nehmen Sie die Hypodermose des Rindes, von der bereits die Rede war. Erreger dieser Krankheit ist in unseren Breitengraden die Hypoderma bovis, die so genannte Dasselfliege. Bereits wenn die Weibchen zur Eiablage anfliegen, kommt es bei den Rindern zum so genannten „Biesen“, sie versuchen, sich durch wilde Flucht in Sicherheit zu bringen, nicht selten kommt es zu Verletzungen. Die Dasselfliegen aber finden ihr Ziel. In der Flugphase kleben sie ihre Eier einzeln an die Haare des Bauches und der Beine des Rindes. Nach etwa vier Tagen schlüpfen winzige Larven, dringen durch die Haarwurzeln in den Körper ein und wandern innerhalb von sieben bis neun Monaten entlang der Nervenbahnen durch den Leib, passieren den Wirbelkanal, gelangen unter die Rückenhaut und bilden während ihres mehrere Wochen währenden Aufenthaltes dort die gefürchtete, taubeneigroßen bindegewebsverkapselten Dasselbeulen, in denen sie leben. Am 360. Tag schlüpfen die Dasselfliegen aus den Puppen, die Männchen und Weibchen, und müssen sehen, dass sie sich treffen und paaren können. Beim Männchen, wenn der letzte Schuss raus ist, kommt auch schon der Tod! Es kann keine Nahrung aufnehmen. Äußerlich haben sie schöne Mundwerkzeuge, aber sie sind verschlossen!“

err Professor Hiepe untermalt die Beschreibung der Mundwerkzeuge mit Gesten neben seinem Kiefer und fügt hinzu: „Beim Weibchen ebenso, kaum ist das letzte Ei heraus, stirbt auch sie. Die sind eigentlich arm dran, aber das ist eben die Überspezialisierung auf die reine Reproduktion. Aber man darf natürlich nicht vergessen, was sie für Schäden angerichtet haben. Und was die Parasiten insgesamt anrichten, ist gar nicht zu ermessen! Unter den etwa 1,4 Millionen bekannten Tierarten rechnet man mit mindestens 70.000 Parasitenarten. – Übrigens findet sich in der Gruppe der Säugetiere nur ein einziger Parasit, die blutsaugende Vampirfledermaus –, ja, und nun könnte man auf den Gedanken kommen, was machen wir nun mit den Parasiten?“ Herr Hiepe blickt einen Moment ins Leere.

„Parasiten sind schädigend, sie müssen bekämpft werden. Aber nicht in Form einer generellen Bekämpfung, im Sinne einer Ausrottung, sondern gezielt. Zum Beispiel Pocken, die werden ja immer noch aufbewahrt, für welche Zwecke auch immer. Also mir wär’s lieber, die hätte man rausgenommen, ganz! Es gibt ja noch nahe Verwandte, die diese Funktion übernehmen könnten; aber ohne zu schädigen. Wir könnten sehr wohl bekämpfungsstrategisch einzelne Arten herausnehmen, ich denke da an beispielsweise Malaria, ich zähle dazu den Virus der Spinalen Kinderlähmung, das hat sehr viel Unglück verursacht. Wir könnten sagen, diese Einzelnen nehmen wir heraus, ohne dass das gesamte Lebensgefüge gestört wird ... Sie hören schon raus, ich bin einer, der die Ganzheitsbetrachtung vertritt, wir müssen das gesamte Lebensgefüge immer im Auge behalten, bei all unserem Jagdtrieb Parasiten zu bekämpfen, ganz sicher. Aber Parasiten, die es zu arg treiben, die einfach schamlos dann sind, wie zum Beispiel eben Pocken – auf die können wir verzichten. Entscheidend ist aber letztlich das gesamte Gefüge, es geht ja nicht nur um den Menschen, sondern um das Leben, nicht? – Weiterentwicklung des Lebens, das wäre so die ethische Grundauffassung. Ein bisschen strenger sind wir beim sozialen Parasitismus, der innerhalb der Arten existiert. Das heißt, die Läuse leben auch in Konkurrenz oder die Bandwürmer beim Menschen. Wenn Sie mit der Nahrung, mit dem Fleisch, mehrere Finnen aufnehmen, was glauben Sie, was sich da abspielt! – Einer bleibt nur übrig, das ist Krieg! Und auch für den sozialen Parasitismus in der menschlichen Gesellschaft ... eigentlich ... das ist auch ... ich denke, eine ethische Pflicht des Parasitologen, darauf aufmerksam zu machen, das kann man nicht dem Selbstlauf überlassen.“

uf unsere Frage, wie das gemeint sei, sagt Herr Professor Hiepe etwas unsicher: „Ja, ich meine diesen Parasitismus, wo eben Menschen geschädigt werden, vorsätzlich, nicht nur durch Kriminalität ...“ Wir fragen noch mal nach, denn der Begriff des Sozialschmarotzers ist ja Bestandteil der politischen Propaganda und Hetze gegen die Armen. „Nein, nein“, ruft Herr Hiepe entschieden, „für mich gibt es einen anderen Sprachgebrauch, was ich meinte ist, dass ... sagen wir, eine Gruppe von Menschen, nur weil sie Geld hat – vergessen Sie das schnell wieder – die lebt eben dann ... hat die größten Schweinereien gemacht, dann sagt sie – so, hier sind eine Million Dollar ... Also das ist schon Parasitismus, aber das führt uns jetzt etwas abseits, in einen anderen Bereich. Einigen wir uns auf den Terminus ‚Sozialer Parasitismus‘, so wie ich ihn anfangs anhand des Bandwurmes erläutert habe. Sehn Sie, was mich eigentlich bewegt, ist doch folgendes: Es geht ja hier um Fragen der Nahrung und des Nahrungsentzuges, um Reproduktion, Entwicklung der Population. Streng genommen ist es ja eine Auseinandersetzung artverschiedener Populationen, die da objektiv existieren. Und die gilt es zu regulieren. Für mich – und da bleibe ich dabei, da mache ich keinen Abstrich – ist es unerträglich, dass 50 Millionen Menschen auf diesem Planeten jährlich verhungern, und die Wissenschaft schläft. Wissen Sie, es gibt eine große Diskrepanz, nicht nur auf dem Gebiet der Parasitologie, zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und dem, was praktiziert wird. Das ist das, was einem durchaus schlaflose Nächte bereitet.

Deshalb ist es so schön, wenn man was Praktisches tun kann, direkte Hilfe leisten ... Ich war ja grade wieder in der Mongolei, vier Wochen, dort haben wir das erste Mal eine zentrale Weiterbildung gemacht für 20 Veterinäre, den harten Kern. Die gehen dann raus und sagen: Achtung, das sind die Medikamente, so bekämpft man in Europa die Tierseuchen, so in Amerika, macht das so und nicht so! Das ist unser Anliegen, unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen die Tierärzte vorzubereiten. Wir sagen, wir haben Desinfektionsmittel und Arzneimittel in Europa, es gibt eine Liste dieser Tierarzneimittel, speziell für Nahrungstiere, das ist so der Standard und das ist wichtig, denn sie wollen ja jetzt auch Fleisch exportieren und müssen, auch was die Rückstände betrifft, weltmarktfähig sein. Das sind so die Aufgaben der Berater.

Wir waren zwei, noch ein Kollege von den Behringwerken, der auch im Ruhestand ist, war dabei. Er war in Leipzig noch damals Schüler von mir und ist dann 60 weggegangen. Er hat sehr viel Erfahrung auf dem Gebiet der Impfstoffe, wir haben uns sehr gut ergänzt. Das alles machen wir ehrenamtlich, im Rahmen des Senioren-Experten-Service. Getragen wird das von einem Dienst der deutschen Wirtschaft für internationale Zusammenarbeit – einer gemeinnützigen Gesellschaft –, dem Auswärtigen Amt und der GTZ.“

Wir fragen nach den früheren Aufenthalten und Erfahrungen in der Mongolei. „Dieses Forschungslaboratorium wurde ja damals Anfang der Siebzigerjahre im Rahmen des Wirtschaftsverbandes gegründet. Es war paritätisch, vier Mongolen, vier Deutsche, in der DDR ein Labor, in der Mongolei ein Labor. Die Pläne wurden ausgearbeitet und dann umgesetzt in die Praxis. Es waren 56 Expeditionen, die wir gemacht haben. Begonnen haben wir mit der Hypodermose, und das umfasste dann die gesamte Ektoparasitose, sodass die gesamten Haustiere, Nutztiere dann in die Bekämpfungsaktion mit einbezogen wurden. Alles, Zecken, Flohplage, Nasendassel. Zwei Millionen Rinder gab es damals, auch Kamele, 14 Millionen Schafe. 20 Millionen Schafe hat man heute, sechs Millionen Pferde und zehn Millionen Ziegen für Kaschmir – sie sind übrigens inzwischen Hauptproduzenten, noch vor Kaschmir selbst ...“

Herr Hiepe springt auf, holt aus seinem Arbeitszimmer ein leichtes, hellgraues Strickjäckchen und sagt: „Sehn Sie mal, wie weich. Das ist im Sommer kühl, im Winter warm, es ist maschinengestrickt und wurde extra für mich zugeschnitten. Um diese Wolle gibt es Ärger im Moment, die Chinesen kaufen sie ganz billig auf, sie wollen nicht, dass die Mongolen so etwas herstellen. Ja, und um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen, auf die Behandlung des mongolischen Rindes. Wir hatten ein nach strengen Regeln ausgeklügeltes Medikament, das einfach aufgegossen wurde. Ganz besonders wichtig, es muss im Herbst geschehen, also vor der Wirbelkanalpassage der Larven, damit sie durch die Wirkung abgetötet werden, noch bevor sie ihre größte Schadwirkung entfalten. Die Larve wird dann vom Gewebe absorbiert, das ist für das Rind ein sehr schonendes Verfahren. Eine Gruppe hatte früher mal versucht, vom Flugzeug aus die großen Weiden einzuschneien. Da ist aber dann die ganze Nutzfauna mit daran zu Grunde gegangen. Und das ist eine Todsünde! Unsere Methode war, wie gesagt, so ausgeklügelt in der Dosierung, die Milch konnte bereits wieder nach sechs bis acht Stunden verwendet werden. Heute ist das Mittel in der EG zugelassen. Und tatsächlich ist es uns mit diesem arbeitsaufwendigen, aber preiswerten und umweltfreundlichen System – darauf waren sie sehr bedacht – in kurzer Zeit gelungen, von 100 Prozent Befallshäufigkeit auf 4,7 Prozent zurückzudämmen. Wir hatten innerhalb von vier Jahren die mongolische Rohhaut weltmarktfähig gemacht! Fakt war, diese Haut war nicht exportfähig, Leder ist ja ein wichtiger Rohstoff, nicht nur für Schuhe und Kleidung, auch für die Technik. Und durch die Atemlöcher der Dassellarven wurden ja die wertvollsten Lederpartien zerstört, weil etwa 80 Prozent der Dassellöcher im Bereich der Lendenwirbelsäule liegen. Und die vernarbten Löcher der geschlüpften Larven fallen beim Gerben heraus oder werden später an dieser Stelle wasserdurchlässig.

a, und dann ist natürlich das Land selbst sehr interessant, es hat 1,5 Quadratkilometer, das ist so weit wie von Rostock bis Rom, von Charkow bis Paris, damals gab es 1,3 Millionen Einwohner – heute sind es 2,4 Millionen – 16 bis 17 Städte, 250 Ortschaften und 200 Somonen – das war eine russische Bezeichnung, heute spricht man ja nur noch ungern Russisch – es heißt Sum, Standort. Da war also der Diesel-, Strom- und Energieerzeuger, der Bürgermeister, die Schule, Krankenstation, Tierarzt usw., dort mussten wir uns melden, von da aus wurde praktisch alles geregelt. Im Geländewagen ging es zu den Araten, das sind die mongolischen Nomaden, die mit ihren Herden dem Futter nachziehen, Sommerweiden, Winterweiden ... Das Land gehört jedem, Halbsteppen, Steppen, Wüste ... Und wir sind da hunderte von Kilometern gefahren, über Steppenstraßen – es gibt ja praktisch nur eine befestigte Straße – zu diesen Jurtendörfern. Das sind meist drei bis sechs Jurten, man wird hineingebeten, das ist sehr zeremoniell, darf keinesfalls auf die Schwelle treten und wird der Herrin gegenüber platziert. Die Rolle der Frau ist ausgesprochen dominant in der Jurte. Was außerhalb liegt, ist Sache der Hirten. Man wird köstlich bewirtet, man palavert – mittels einer Dolmetscherin – fasst Beschlüsse, und dann werden sie umgesetzt.

as ist eine sehr eigene Welt dort, die mich sehr fasziniert, auch das Religiöse. Ich interessiere mich ja sehr für die großen Religionen – ich selbst neige eher in Richtung Konfuzianismus, nicht was die Riten betrifft, nein, aber eben die Richtung gefällt mir, das Alles-im-Auge-Haben, das Ganze sehen, nach oben offen lassen, das gezügelte Leben eben, die grundsätzliche Lebensauffassung. Denn sehen Sie, es ist doch so, wir sind nur eine von 1,2 Millionen Tierarten auf diesem Planeten, und nur unsere Art hat das Glück, denken zu können – ja, Glück oder nicht – aber sie hat auch Pflichten und Verantwortung überall da, wo sie eingreift in die Lebensprozesse ... Deshalb habe ich mich ja auch für die Einführung eines Lehrstuhles für Tierschutz stark gemacht, also mit dem Lehrkomplex Tierschutz, Ethologie, Tierversuchskunde und Alternativen zum Tierversuch. Die Rolle des Veterinärs kann ja nicht sein, so wie es die Tierschützer sehen, dass er vor allem den ökonomischen Interessen der gewerblichen Tierhalter zu dienen scheint. Die Tierärzte müssen auch wirklich Anwälte der Tiere sein. Wir haben ja heute ein neues ethisches Grundkonzept zu vertreten, eine anthropozentrische Ethik ist von einer Ethik der artübergreifenden Humanität verdrängt worden, die Ansprüche des Tieres sind zu einem schützenden Rechtsgut erhoben worden. Und das ist eine Herausforderung für die neue Tiermedizin ...“

Wir schneiden im Sinne des Gesagten das Thema BSE an. Herr Professor Hiepe hat 1996 in der Leopoldina eine Podiumsdiskussion mit Mitgliedern der Akademie sowie erfahrenen Fachleuten organisiert und eine vorläufige Bestandsaufnahme vornehmen lassen. Er selbst hat 1997 vor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften einen zusammenfassenden Vortrag gehalten mit dem Titel: „ ‚Rinderwahnsinn‘ – ein Wahnsinn?“, der mit einer Kritik am Sprachgebrauch beginnt: „ (...) Die Bezeichnung Wahnsinn ist humanspezifisch und somit nicht auf Tiere übertragbar.“ Herr Hiepe sagt mit erregtem Unterton: „Das ist eine sehr ernste Angelegenheit ... In Deutschland hat man sich da an die Spielregeln gehalten, es gab ja technische Vorgaben damals, die man nicht eingehalten hat. Aber das Schlimmste ist, dass man, obwohl man wusste, dass diese OSL, diese Traberkrankheit, auf der britischen Insel bekannt ist, seit 1759 schon, dass man diese Schafe dann, mitsamt den infektiösen Nachgeburten, zu Tiermehl verarbeitet und an Rinder verfüttert hat ... Und als das ausbrach, als man es erkannte, immer noch weitergemacht hat. Das ist unvertretbar, u n v e r z e i h l i c h !! In Deutschland schreibt das Tierkörperbeseitigungsgesetz eine Zerkleinerung der Tierkörper oder Bestandteile auf Stücke von weniger als 5 Zentimeter Durchmesser, Erhitzung auf 133 Grad Celsius, 20 Minuten lang vor, bei einem Druck von drei Bar. Und weil das Verfahren sehr kosten- und energieaufwendig ist, hat man, aus Gewinngründen, in Großbritannien dieses Verfahren vereinfacht auf 80 Grad Celsius und Fettextraktion ...“ Auf die Frage, ob alle toten Tiere, Schlachthofreste, Ratten, Katzen und auch der eingeschläferte Hund so behandelt werden, bejaht Herr Hiepe: „Auch was zum Beispiel in der Veterinärpathologie so anfällt, das kommt alles in die Tierkörperbeseitigung ...“

„Wo es eben nicht beseitigt, sondern zu Tiernahrung verarbeitet wird, die man dann an Tiere verfüttert, sogar an reine Pflanzenfresser“, wenden wir ein. Herr Hiepe ruft aus: „Das ist richtig, was Sie sagen, das ist tatsächlich derart ... Ja glauben Sie, mich bewegt das nicht? Gut, dass vom Schlachthof die Abfälle genutzt werden als tierisches Eiweiß, in einer Welt, in der 50 Millionen verhungern, verstehen Sie mich richtig ... Aber: Dieser schamlose Missbrauch, der bewegt mich schon lange. In der DDR kam ja damals diese Tierkörperbeseitigungs- und Verwertungsanstalt, so hieß die, und da habe ich gesehen, wie’s langgeht – da habe ich damals gesagt: Leute! So doch nicht! Das nicht! Bis hierher und nicht weiter!! Und es hat tatsächlich etwas genutzt. Denn wissen Sie, das Risiko ...“ Herr Hiepe sagt es fast flüsternd, „das war ja sehr groß, wenn das nicht funktioniert hätte damals, bei diesen Tierkonzentrationen ...“

ur Frage nach seiner heutigen Sicht auf die industriemäßige „Tierproduktion“ der DDR sagt Herr Professor Hiepe ohne Zögern: „Da wurden Grenzen wirklich überschritten, ich habe mich mal beim Landwirtschaftsministerium erkundigt nach den Obergrenzen, das waren 6.000 Milchkühe unter einem Dach, 200.000 Schweine, von den Hühnern ganz zu schweigen ... Das schlug sich natürlich nieder in Rattenbefall. In Fliegenplagen auch, besonders im Schweinestall. So entstand übrigens die biologische Fliegenbekämpfung, Fliege gegen Fliege, denn es war schrecklich! Wenn sie das Licht anmachten, dann knisterte die Luft, und wie ein Atompilz kam das überall heraus ... Und wir hatten diese Fliege also, die ansonsten in Amerika ist, sie betreibt praktisch Autotomie, das heißt, sie reguliert ihre Population selbst. Sie frisst andere Insekten, so auch die Brut der Musea demestic, der Stubenfliege. Und wenn dann nichts mehr da ist, frisst sie ihre eigene Brut größtenteils, sodass nur ein paar übrig bleiben. Stubenfliegen aber keine.

Dieses Problem haben wir gelöst, gut – aber den Mut gehabt zu sagen, wenn ihr weiter so produziert, dann verlasse ich dieses Land, den habe ich nicht gehabt. Und deshalb auch sagte ich das vom gezügelten Leben, denn ich glaube schon, wenn man sich erlaubt, in die Lebensprozesse einzugreifen, wie das der Parasitologe tut, um zu regulieren – wenn man sich also anmaßt, Leben zu regulieren, wie das in der Parasitenbekämpfung geschieht, dann muss man sich seiner großen Verantwortung stets bewusst sein.“

Hinweis: Ausstellung „Parasiten – leben und leben lassen“ im Museum für Naturkunde, Berlin, bis 14. 3. 2001

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