„Angst der Grünen, ins Abseits zu geraten“

Der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit hält es für falsch, jetzt vom Begriff der multikulturellen Demokratie abzurücken

taz: Herr Cohn-Bendit, gerade haben Sie im Auftrag der Hypo-Bank vor 2.000 Zuhörern über die multikulturelle Demokratie gesprochen. Wie war denn die Reaktion?

Cohn-Bendit: Es gab tatsächlich lang anhaltenden Beifall. Ich habe mich auch mit dem Begriff der Leitkultur auseinander gesetzt. Wir haben hier politisch eine demokratische Leitkultur, und wir haben gesellschaftlich eine Pluralität der Lebensentwürfe. Deswegen hätten wir auch dann eine multikulturelle Gesellschaft, wenn es hier keinen einzigen Einwanderer gäbe. Es gibt verschiedene, gleichwertige Lebensentwürfe, die sich alle demokratisch organisieren: verheiratet oder nicht, gleichgeschlechtlich oder heterosexuell, religiös oder atheistisch, mit Kindern oder ohne, um nur einige Beispiele zu nennen.

Was sagen Sie dazu, dass Ihre Parteivorsitzende Renate Künast angekündigt hat, die Grünen wollten künftig von „Verfassungspatriotismus“ sprechen und den Begriff „Multikulti“ nicht mehr verwenden?

Ich verstehe die Grünen, die Angst haben, ins gesellschaftliche Abseits zu geraten wie seinerzeit bei der Doppelpassdebatte. Aber man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Ich bleibe bei dem Begriff der multikulturellen Demokratie und hoffe, dass wir beim nächsten Parteitag darüber streiten können. Den Zeitpunkt der Äußerungen halte ich allerdings für fatal – und falsch. Wir tun damit doch so, als ob die mörderische Irrationalität eines Teils der Gesellschaft, der Immigranten und Asylbewerber drangsaliert und Synagogen angreift, durch schwammige politische Begriffe provoziert worden wäre. Eigentlich müssten die Grünen in der jetzigen Situation nur einen Vorschlag machen: dass Spitzenpolitiker aller Parteien gemeinsam Großkundgebungen in Deutschland mit einer einzigen Botschaft organisieren: Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft.

Am 9. November soll ja in Berlin eine Großkundgebung gegen rechts stattfinden. Ist die CDU dafür denn derzeit der richtige Partner?

Merz und Stoiber bedienen die Stammtische, und ich leuge nicht, dass das gefährlich ist. Aber es gibt auch in der CDU viele, die das nicht wollen, und man muss versuchen, diese Emanzipationsbestrebungen zu unterstützen. Diesen Teilen der CDU muss man jetzt Solidarität zeigen. INTERVIEW: BETTINA GAUS